Viele Menschen, die in den 60er, 70er, 80er und sogar noch in den 90er Jahren aufgewachsen sind, kennen das Phänomen der „Kinderverschickung“ nur am Rande. Doch für Tausende von Kindern in dieser Zeit war es eine prägende Erfahrung, die bis heute Spuren hinterlassen hat. Iris F. , selbst ein sogenanntes Verschickungskind, wendet sich nun an Betroffene und Zeitzeugen, um gemeinsam das Schweigen zu brechen, Erinnerungen auszutauschen und Unterstützung zu finden.
Von RS-Redakteurin Claudia-Isabell Schmitz
Kreis Viersen/Region – Der Begriff „Kinderverschickung“ bezieht sich auf die Praxis, Kinder für mehrere Wochen oder Monate allein in Kur zu schicken. Viele waren krank oder schwächlich, und es war nicht unüblich, dass die Krankenkassen Maßnahmen anordneten. Oft wurden die Kinder ohne die Eltern in sogenannten „Kinderheilstätten“ an Orten wie dem Allgäu, dem Nordsee oder dem Schwarzwald geschickt, um dort Erholung zu finden. Doch die Realität sah oft anders aus. Viele der betroffenen Kinder fühlen sich isoliert und überfordert, manche berichten von traumatischen Erfahrungen.
„Als Verschickungskind habe ich schon früh Erfahrungen gemacht, auf die ich gerne verzichtet hätte, die mich jedoch bis heute prägen“, berichtet Iris F. „Vieles blieb unausgesprochen, Erlebtes war oft unbeschreiblich.“ Doch heute, Jahrzehnte später, sind wir nicht mehr alleine. Gemeinsam können wir stark sein und unsere Geschichten aufarbeiten.“
Iris F., Jahrgang 1967, möchte den Austausch zwischen ehemaligen Verschickungskindern, Zeitzeugen und Betreuern fördern. Ihr besonderes Ziel ist es, Menschen zu finden, die möglicherweise mit ihr am 20. Februar 1975 in Viersen am Bahnsteig standen und in einen Zug Richtung Kempten ins Allgäu verfrachtet wurden. „Ich erinnerte mich an die grünen Krankenkassen-Rucksäcke und daran, wie wir ins Ungewisse geschickt wurden.“ Doch viele Details fehlen mir bis heute“, erzählt sie. Der Austausch könnte helfen, Erinnerungen zu vervollständigen und Wunden zu heilen.
Aber nicht nur diejenigen, die in den 70er Jahren in Kur geschickt wurden, sind angesprochen. Iris freut sich über Kontakt zu allen, die in der Kinderkur oder Kinderverschickung involviert waren – sei es als Betreuer, Lehrer, Ärzte oder auch als Verwandte von Betroffenen. „Viele von uns wissen gar nicht, warum wir überhaupt in die Kur geschickt wurden“, sagt sie. „Die Erinnerungen sind fragmentiert, und es ist wichtig, diese gemeinsam wieder zu entdecken.“
Das Schweigen zu brechen und die Isolation zu überwinden ist das Ziel. „In der Vergangenheit wollten viele nicht hören, was wir erlebt haben, und es wurde viel weggeschaut.“ Doch heute bieten wir einen geschützten Raum, in dem wir offen über unsere Ängste, Sorgen und Erfahrungen sprechen können“, so Iris F. Dieser geschützte Rahmen bietet nicht nur emotionalen Beistand, sondern kann auch zur Klärung offener Fragen und dem Verstehen der eigenen Geschichte beitragen.
Ein erster Termin für – wenn gewünscht – auch regelmäßige Gesprächskreise oder Informationsaustausch für Verschickungskinder und Zeitzeugen kann voraussichtlich am 4. November in den Räumen der BIS in Brüggen stattfinden. Ein solcher Kreis könnte Betroffenen helfen, sich gegenseitig zu stärken und gemeinsame Lösungen für die Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit zu finden.
Iris F. bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten an: ob Schreiben, Telefonieren, persönliche Treffen, Einzelgespräche (falls jemand Gruppen als unangenehm empfindet) oder Gruppentreffen, sowohl einmalig als auch regelmäßig. Ihr Motto lautet: Jeder soll die Unterstützung erhalten, die ihm am besten hilft.
Wer sich angesprochen fühlt, sei es als ehemaliges Verschickungskind, Zeitzeuge oder Betreuer, kann sich bei Iris F. unter der E-Mail-Adresse iris.kinderverschickung@posteo.de melden. Auch die BIS Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Kreis Viersen steht für Fragen zur Verfügung unter der Telefonnummer 02163/5622. Weitere Informationen zur Geschichte der Kinderverschickungen finden Interessierte auf der Webseite kinderverschickungen-nrw.de.
Die Initiative von Iris F. zeigt, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und dabei Unterstützung von Gleichgesinnten zu finden. Durch den Austausch von Erinnerungen und Erfahrungen können Betroffene einen Weg finden, die Schatten der Vergangenheit zu überwinden, Retraumatisierungen zu stoppen und neue Perspektiven zu gewinnen. (cs)