Im Prozess um den Tod der dreijährigen Greta F. begann am vierten Verhandlungstag die Beweisaufnahme des schicksalshaften Tages in der Viersener Einrichtung. „Die Kinder leiden sehr, sie vermissen sie total, gerade jetzt zur Weihnachtszeit. Das Leben ist halt nicht mehr so, wie es mal war“, berichtete Gretas Mutter. „Wir wollen eigentlich alle nicht mehr leben, müssen aber.“
Von RS-Redakteurin Nadja Becker
Viersen/Region – Am Dienstagmorgen wurde die Verhandlung im Todesfall der kleinen Greta aus Viersen rund eineinhalb Stunden später als zunächst geplant fortgeführt, die Angeklagte 25-jährige Sandra M. stand bei der Überführung aus der Justizvollzugsanstalt im Stau.
Als erste Zeugin des vierten Verhandlungstages berichtete Gretas Mutter von den letzten Stunden vor dem schicksalshaften Tag des 21. Aprils in der Viersener Kindertageseinrichtung. Ursprünglich war die fast Dreijährige von einer Freundin der alleinerziehenden Mutter betreut worden, die beiden weiteren Kinder waren zu dieser Zeit bereits in der Notbetreuung untergebracht. Noch am Vorabend hatte das Mädchen bei ihrem kleinen Bruder schlafen wollen. Die Matratze war platziert worden, die Nacht kurz, die Vorfreude auf den Kindergarten nach der Pause des Lockdowns groß. Früh am Morgen startete der erste Tag für Greta in der Notbetreuung und als einziges Kind in der Viersener Tigergruppe, wo es zu dem Vorfall kam, über den nun verhandelt wird.
Am Nachmittag erreichte die Nachricht Frau F., welche ihre Tochter erst am frühen Abend sehen durfte. „Sie hing an Schläuchen, war nicht mehr ansprechbar und lag im Koma“, erinnerte sie sich und berichtete von dem Anruf im Kindergarten sowie den Worten der Angeklagten, die bis heute nachklingen: „Greta atmet nicht mehr.“ Im Krankenhaus wurde eine künstliche Hypothermie angewandt, ohne Erfolg – am 4. Mai 2020 verstarb das Mädchen, einen Tag nach ihrem Geburtstag.
Greta war fünf Wochen zu früh geboren worden, litt unter einer Rippenfehlstellung, aß wenig. Gretas Kinderarzt, Dr. W., berichtet von einem völlig normalen sowie gesunden Mädchen. Das Mädchen sei zwar sehr zierlich, der Entwicklungsstand jedoch altersentsprechend gewesen. „Wir waren viel draußen in der Natur, sind viel Fahrrad gefahren“, berichtete Gretas Mutter. „Wenn Greta gefallen ist, zum Beispiel von der Rutsche, dann hat sie schon einmal kurz den Atem angehalten. Dann musste man sie anpusten“, so Gretas Mutter. Ein solcher Vorfall sei jedoch nur einmal vorgekommen. Greta war sehr dünn, sehr klein, aber gesund am Tag ihres Besuches in der Notfallbetreuung.
„Uns geht es nicht gut, wir versuchen den Alltag aufrecht zu erhalten, ich arbeite so gut es geht“, antwortete sie auf die Frage nach dem Leben ohne Greta. „Der Tod von Greta nimmt uns sehr mit. Wir gehen sie jedes Wochenende besuchen, alle zusammen. Ich fahre meistens selber noch mal hin, zwei, drei Mal die Woche, wenn auch nur kurz, ich muss sie noch einmal sehen. Die Kinder leiden sehr, sie vermissen sie total, gerade jetzt zur Weihnachtszeit. Das Leben ist halt nicht mehr so, wie es mal war. Wir existieren nur noch, wir leben nicht. Mein großer Sohn und ich sind beide in einer Psychotherapie, der Kleine verweigert sich. Er möchte nicht mehr sein und er sagt, dass er nicht mehr leben will. Wir wollen eigentlich alle nicht mehr leben, müssen aber.“

Unter Tränen berichtete die Einrichtungsleiterin von dem Vorfall. Sie hatte sich noch von Greta verabschiedet. „Gretchen, du musst morgen aber mehr essen“, habe sie zu ihr gesagt und das Kind hatte tänzelnd geantwortet: „Ja, jetzt bin ich aber müde.“ Weil im Krankenhaus zunächst nichts gefunden worden sei, war man erst von einem Kindstod ausgegangen. Die Angeklagte Sandra M. war während des Lockdowns zunächst im Home-Office tätig. Weil es keine Arbeiten mehr für sie gab, war sie an diesem Tag in die Kita zurückgeholt worden. Eigentlich wäre es ihr letzter Arbeitstag gewesen, bereits im Vorfeld war es zu Unstimmigkeiten im Arbeitsumfeld gekommen. Sie hätte wenig Bezug zu den Kindern gehabt, hätte Geschichten bei Gesprächen erzählt und konnte sich nicht ins Team einfügen. Die Einrichtungsleiterin Frau C. berichtete von zwei Situationen, bei denen ein Dreijähriger, der rumalberte, als Maßnahme von der angeklagten Erzieherin auf einen Stuhl in den Nebenraum gesetzt wurde, einem Einjährigen hätte die angeklagte Erzieherin ein Trinkverbot auferlegt, nachdem dieser einen Becher umgestoßen hatte. Die Kündigung war bereits vorbereitet, ein Personalgespräch geführt gewesen. Dieser sei die Angeklagt mit ihrer eigenen Kündigung zuvorgekommen.
Nachdem Vorfall wurde der Urlaub der Angeklagten ausgesetzt und sie durfte weiterhin in der Einrichtung arbeiten „damit die Erzieher mit dem Schmerz nicht allein sein mussten“.
An ein herzliches Kind erinnerte als weiterer Zeuge der 34-jährige Bezugserzieher Herr Sch. an die Verstorbene. Greta haben den Tag in der Einrichtung als einziges Kind in der Gruppe genossen. Kurz vor dem Ende seines Arbeitstages habe er sie zu Bett gebracht, habe das Babytelefon auf die fast Dreijährige ausgerichtet. Ab 13:30 Uhr war die Angeklagte alleine mit dem Mädchen. „Greta war ein sehr fröhliches Kind“, so der Erzieher. „Sie war motorisch sehr gut entwickelt.“ Sie habe ganz normal getobt. „Es ist oft so, dass Kinder die fallen hyperventilieren und es ist gängig sie dann ‚anzupusten‘“, ergänzte er.
Kurz am Morgen hätte auch eine der zwei Erzieherinnen, Frau M., der benachbarten Falkengruppe Greta gesehen. Gegen 14:45 Uhr sei die 25-jährige Sandra M. in die Gruppe gekommen und habe um Hilfe gebeten. „Ich brauche eure Hilfe, ich kriege Greta nicht wach“, habe sie gesagt. Die verhörten Zeuginnen sagten fast übereinstimmend aus, dass die Angeklagte ruhig gewesen sei, ebenfalls die Türe hätte sie ohne Hektik geöffnet. Frau M. sei mit zwei weiteren Erzieherinnen sowie der Angeklagten in das Zimmer gegangen und erst am Bettchen hätte sie realisiert, dass etwas nicht stimmt. Beim Hochheben sei der Kopf des blassen Mädchens nach hinten gefallen. Dann sei Panik ausgebrochen, alle hätten geschrien – „Alle außer Sandra M. Sie hat nie geschrien“.
Die 28-jährige zweite Erzieherin der Falkengruppe, Frau H., habe dann mit der angeleiteten Reanimation durch die Leitstelle begonnen. Auch sie und die 29-jährige Heilerziehungspflegerin Frau W. wurden am Dienstag befragt, ihre Stimmen zitterten. Zu zweit mit der Angeklagten hätte man die Reanimation durchgeführt, den Erzieherinnen seien sofort die blauen Lippen aufgefallen. Sandra M. hätte keine Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt, sie hätte es nicht gekonnt. Später habe Sandra M. mehrfach gesagt, dass alles ihre Schuld sei – ein Satz, der erst später an Bedeutung gewonnen hat. Am Donnerstag wird der Prozess weitergeführt, er dauert bis in das nächste Jahr hinein an. (nb)
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