Von Frieda verabschiedete sich der Junge, wenn er zur Schule ging. Frieda begrüßte er, Frieda begrüßte ihn, wenn er zurückkam. Er wusste, was Frieda sagen wollte, wenn er auf der Wiese ihre laute Stimme hörte. Frieda konnte sicher sein, dass er sie verstand, auch wenn ihr Schnattern einem Fauchen ähnelte.
Von Peter Josef Dickers
Literarisches – Frieda war seine verlässliche Freundin. Frieda, die Gans. Eine Wiesengans, fügte der Vater hinzu, weil sie auf der Wiese lebte. Vater hatte kürzlich von Tiefkühlgänsen erzählt, die im Geschäft zu kaufen wären. Das verstand der Junge nicht. Was Vater meinte, als er vom aromatischen Fleisch einer Wiesengans sprach, begriff der Junge auch nicht. Über ihr Fleisch machte er sich keine Gedanken. Frieda fraß Gras auf der Wiese und Samenkörner von den Pflanzen, die dort wuchsen. Frieda wäre wie ein Rasenmäher, hatte Vater gesagt.
Das Gras werde nie zu hoch; dafür sorge Friedas großer Appetit. Wenn sie eine Fresspause einlegte, vergnügte sie sich in dem kleinen Planschbecken. Böse konnte sie werden, wenn ein Fremder in ihre Nähe kam. Den fauchte sie an und machte ihm mit wütenden Rufen klar, dass dies ihre Wiese war und sie keinen Eindringling duldete.
Inzwischen war es Dezember geworden. Das Weihnachtsfest kündigte sich an. Als der Junge eines Mittags seine Schulaufgaben erledigte, drangen durch das offene Fenster seltsame Worte an seine Ohren. Jetzt wäre Gänsezeit, sagte jemand. Gänse wären reif für einen Wechsel von der Wiese in den Backofen. Weihnachten gehörte ein Gänsebraten auf den Teller. Eine dunkelbraun gebratene, knusprige Wiesengans wäre eine Delikatesse. Von welcher Gans sprach der Mann, mit dem sich Vater unterhielt? Frieda konnte nicht gemeint sein. Gestern hatten sie überlegt, ob Frieda den Winter im Stall verbringen sollte wie vergangenes Jahr. Aber warum sprach der Mann immer noch mit Vater? Das Gänse-Essen würde im stimmungsvollen Rahmen stattfinden. Vater würde selbstverständlich eingeladen.
Der Junge konnte es nicht glauben. Wollte der fremde Mann Frieda mitnehmen, um sie zu braten? Das durfte er nicht zulassen. Sollte er Frieda anraten zu fliehen? Aber wohin? „Hast du keinen Hunger?“ Vater wunderte sich über seinen Sohn, als sie abends am Tisch saßen. Der antwortete nicht. „Schmeckt es dir nicht?“ „Soll Frieda in den Backofen?“ Der Junge konnte seine nicht verbergen. Vater ahnte, dass er das Gespräch mit dem Fremden mitbekommen hatte. „Da du alles mit angehört hast, will ich es dir erklären“, begann Vater. „Wenn Frieda alt und krank ist, fühlt sie sich nicht mehr wohl. Daher ist es besser, sie jetzt abzugeben.“ „Aber warum soll sie in den Backofen?“ wollte der Junge wissen. „Weil sie jetzt am besten schmeckt.“ Das Gespräch war beendet. Der Junge musste ins Bett.
Als Vater am nächsten Morgen Frieda auf die Wiese ließ, traute er seinen Augen nicht. An ihrem Hals baumelte ein Zettel. „Frieda wünscht Fröhliche Weihnachten.“ Es war nicht schwer zu erraten, wer ihr den Zettel um den Hals gehangen hatte. Frieda durfte weiter Gras auf der Wiese fressen. Mit ihrem Schnattern begrüßte sie den Jungen, wenn er aus der Schule kam. Frieda wurde keine Weihnachtsgans. Sie blieb eine Wiesengans. Wenn sie nicht gestorben ist, schnattert sie immer noch auf der Wiese. (opm)


Aus:P.J. Dickers, Du lieber Himmel
Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.
„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.