Weihnachtliche Geschichten – „O Tannenbaum“

„Was will dein Kleid mich lehren?“ So dröhnt es aus dem Lautsprecher. Was es mit dem „Kleid“ und dem „lehren“ auf sich hat, habe ich als Kind nie verstanden. Am Nachmittag vor Heiligabend wurde im „besten Zimmer“ der Tannenbaum aufgestellt – Bauerngarten-Exemplar, nicht Nordmann- oder Edeltanne.
Literarisches zur Weihnachtszeit von Peter Josef Dickers

Advent – An ihn hingen wir Kinder ein paar Äpfel, die auf einem Lattenrost im Keller lagerten. Einige sahen angeknabbert aus. Dass sich Mäuse für sie interessiert hatten, dementierte Mutter, obwohl eine Mausefalle unter dem Regal stand.

Was hätte mich das Äpfel-Kleid lehren sollen? Dass wir kein Geld für Christbaumschmuck hatten und Äpfel das brüchige Lametta ersetzen mussten? Auch mit „Hoffnung und Beständigkeit“ hatte mein kindlich begrenztes Auffassungsvermögen Probleme. Was gab es für uns zu hoffen kurz nach dem Krieg? Es konnten nicht die Äpfel sein, die immer unansehnlicher wurden. Auch nicht das Lametta, dessen traurige Reste nicht lohnten, für den Tannenbaum im nächsten Jahr aufbewahrt zu werden. Auch war nicht daran zu denken, auf besondere Gaben zu hoffen, die Heiligabend unter dem Tannenbaum liegen würden. Die neuen Strümpfe, die Mutter gestrickt hatte, trug ich schon seit geraumer Zeit.

Foto: JillWellington/Pixabay

Ich erkannte es nicht, obwohl das mit der Beständigkeit logisch war: Tannenbäume sind grün, solange sie nicht abgeholzt und ins warme Zimmer gestellt werden. Sie scheinen nicht der Vergänglichkeit unterworfen zu sein wie andere Dinge. Dass sie nicht ihre Nadeln verlieren, ist zwar eine optische Täuschung, aber insgesamt bleiben sie grün – lebendiger Kontrast zu ihren nadellosen, laublosen Nachbar-Bäumen im Winter.

Beständigkeit sei der Schlüssel zum Erfolg – mit diesem Spruch wirbt eine Firma und preist ihre Produkte an. Vielleicht gilt auch das nur, wenn sie nicht ins warme Zimmer geholt werden. Spätestens am Neujahrstag nadelte unser Tannenbaum. Er war nicht schon Wochen vorher in irgendeinem Wald abgeholzt und auf Reisen geschickt worden. Kürzlich hatte er noch in unserem Garten gestanden. Dennoch zeigte sein Kleid schon Spuren der Vergänglichkeit. Die Hoffnung, dass er grün bleiben werde, erwies sich als trügerisch und fand ein jähes Ende. Beweis für die Zerbrechlichkeit der Welt, sagte man mir später.

Beständigkeit musste neu definiert werden. „Nur, wer sich ändert, bleibt sich treu.“ Leider hatte ich davon noch nichts gehört. Ob das nadelnde Kleid mich lehren sollte, ein Tannenbaum bleibe Tannenbaum, auch wenn er nadelt? Wenn das so ist, beruhigt mich das. Tannenbäume sind auch dann Tannenbäume, wenn ihr Kleid nicht mehr ganz grün ist und die Anzahl ihrer Nadeln eine rückläufige Tendenz aufweist. Nichts ist so beständig wie die Unbeständigkeit. Schade, dass mir das erst bewusst wurde, als ich schon erwachsen war. (opm)


Aus: Peter Josef Dickers, „Du lieber Himmel. Nicht ganz alltägliche Geschichten“, Verlag Neopubli Berlin 2017, 11,99 Euro, ISBN 978-3-7450-7958-6

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.