Literarisches: Muttertage. Mutterjahre

Hungerjahre prägten das Leben in unserem Dorf. Kein Wirtschaftswunder. Keine heile Welt. Vergesst Gott nicht in eurer Not, hatte der Pfarrer die Gläubigen in der Kirche ermahnt.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Meine Mutter war gläubig, aber sie musste nach irdischen Dingen Ausschau halten statt nach dem Himmel. Der Himmel war weit weg. Es ging ums Überleben, um konkret Erreichbares. Sie brauchte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mantel und Schuhe. Neue Schuhe, die ich zur Feier der Erstkommunion tragen sollte, waren nicht erschwinglich. Ein Schuster stellte sie in Heimarbeit her. Meinen Kommunionanzug erbettelte Mutter.

„Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg.“ Das Volkslied aus der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ haben wir nicht gesungen, sondern erlebt. Ich erinnere mich, dass der Briefträger Mutter einen Brief in die Hand drückte. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, als ihr ein Brief den „Heldentod“ meines Vaters in Russland mitteilte. Ob es ihr viel bedeutete, dass er „als vorbildlicher Soldat in treuer Pflichterfüllung gefallen“ war? Über ihre eigene Pflichterfüllung hat sich die patriarchalisch geprägte Gesellschaft wahrscheinlich keine Gedanken gemacht. Gefallene oder vermisste Väter, Söhne und Freunde waren überall in der Nachbarschaft zu beklagen. Warum sollte es uns anders ergehen? Ich war zu jung, um zu begreifen, was das bedeutete. Mutter hat nie darüber gesprochen.

Muttertage. Mutterjahre. „Mutter, was soll was soll das noch geben?“ Oft hätte ich das fragen können. Und doch habe ich sie nie verbittert erlebt. Sie sang gern. „Sag mir wo die Blumen sind. Wo sind sie geblieben?“ Das Lied Marlene Dietrichs sang oder summte sie manchmal vor sich hin. Vielleicht sollte es die Schatten der Zeit für eine Weile beiseiteschieben. Friedvolle Idylle, Hort der Harmonie und Beglückung, der Ruhe und Stabilität war unser Leben nicht. Es ließ wenig Zeit für Träume. Kein Wunder, dass Mutter nicht sehr alt geworden ist. Ihr Lebensfaden war brüchig geworden.

Das Bild, das sich mir eingeprägt hat, begleitet mich bis heute. Es gehört zu meinen unauslöschlichen Kindheitserinnerungen. (opm)

Foto: Peter Josef Dickers

Foto: Privat

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.