Literarisches: Patientenverfügung. Man soll über mich verfügen

Plötzlich steht ihr Atem still, steht in der Broschüre. Motorradunfall. Herzinfarkt. Wer entscheidet dann, ob Sie dauerhaft weiter beatmet werden sollen? Muss ich das wissen? Muss ich wissen, steht in der Broschüre. Anderenfalls werde ich beatmet, oder auch nicht, wenn keiner weiß, wie lange ich noch atmen will.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich morgen rote oder weiße Socken anziehen soll. Muss ich darüber nachdenken, ob ich weiteratmen will, wenn mein Atem still steht? Muss ich festlegen, wie lange ich noch atmen will, wenn ich nicht atmen kann? Wofür haben wir Ärzte? Manchmal streiken sie. Irgendwann werden sie sich wieder mit meinem Atmen beschäftigen.

Nein, sagt die Broschüre, das reicht nicht. Wenn ich nicht sagen kann, wie lange ich noch atmen will, muss ich das vorher verfügt haben. Ehe mein Atem aussetzt, sollte ich festgelegt haben, ob er wieder in die Gänge kommen soll. Patientenverfügung nennen sie das. Sie verfügt, wer über mich verfügt. Atem verlängernde, Leben verlängernde Maßnahmen muss ich vorbestellen, damit sie zum richtigen Zeitpunkt lieferbar sind. Würdelose Begleiterscheinungen könnten eintreten, wenn ich die Atemverlängerung nicht geplant habe. Qualvoll könnte ich Wochen oder Monate lang ohne Atem oder mit dauerndem Atem da liegen. Kein menschenwürdiges Ende. Kein selbst bestimmtes Atmen. Nur ein Ende.

Das will ich nicht. Wahrscheinlich will ich auch kein Ende. Aber es kann so sein, sagt die Broschüre. Daher soll ich mich für ein verfügtes, betreutes Ende entscheiden. Eine Person meines Vertrauens kann ich als Betreuer bestimmen, dazu einen Ergänzungsbetreuer. Dann habe ich die Sicherheit, wie das mit der Atemverlängerung geregelt wird. Die Betreuer entscheiden, wie ich betreut werde, ob ich auf Zimmer 403 bis 407 beatmet werde oder auf Zimmer 401 bis 402 nicht mehr.

Ich war tatsächlich einmal richtig krank. Damals habe ich mich vom Arzt betreuen lassen. Vom Vertrauensarzt. Der hieß so, weil ich ihm vertraute. Ich traute mich, von ihm betreut zu werden. Heute ist das nicht mehr so einfach. Vielleicht streiken deswegen die Ärzte gelegentlich. Oder sie streiken, wenn sie erfahren, was ich verfügt habe. Sie müssen sich nicht strikt daran halten, steht in der Broschüre. Vielleicht versorgen sie mich weiter, weil sie glauben, dass ich ihnen das zutraue. Am Ende überlebe ich, und es gibt kein Ende für mich. Daher werde ich alles daransetzen, das Atmen nicht zu vergessen. Dann muss ich nichts verfügen und füge mich.

Foto: Privat

Aus: P.J. Dickers, Meine Zeit. Deine Zeit

Foto: Privat

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.