Literarisches: Sankt Martin in Moskau

Ich hatte mich über die Anzahl und Größe der Koffer gewundert, die Mitreisende auf dem Weg nach Moskau dabei hatten. Dass man für drei Tage so viel Gepäck benötigte, erstaunte mich.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Die für Moskau vorhergesagten Temperaturen boten keinen Anlass, jede Menge warmer Winterkleidung mitzunehmen. Weihnachtsgeschenke enthielten sie wahrscheinlich auch nicht, weil wir so lange nicht bleiben wollten. Moskau war noch Hauptstadt des Vielvölkerstaates Sowjetunion.

Unser Hotel am Roten Platz war bevölkert von Devisen-Besitzern, von Dollar- und DM-Touristen. Sie konnten ihre harte Währung günstig in Rubel tauschen, im Gegensatz zu den Ostmark-Touristen aus Dresden und Leipzig. Für Rubel gab es nur sowjetischen Krimskrams zu kaufen. Für Dollar und D-Mark alles andere.

Die Etage, auf der mein Zimmer im sechsten Stock lag, entsprach sowjetischem Standard. Was dem auch zu entsprechen schien, waren die vielen Etagen-Frauen, die aus unerklärlichen Gründen hier oben Dienst taten. Kaum hatte ich meine relativ kleine Reisetasche ausgepackt, klopfte es. Eine jener dienstbaren Geister brachte ein Kopfkissen, das sie angeblich vergessen hatte auf mein Bett zu legen. Mit kurzem, prüfendem Blick registrierte sie die offene Tasche und die Wäsche, die ich auf dem Bett ausgebreitet hatte. Meine in jeder Hinsicht aufmerksame Zimmerfrau zog ein paar Rubelscheine aus der Schürzentasche und hielt sie mir wie ein Sonderangebot mit der einen Hand unter die Nase. Mit der anderen zeigte sie auf die Wäschestücke. Sie wollte meine Unterwäsche kaufen.

Davon hielt ich nichts. Ich war nicht nach Moskau gereist, um im Hotel Unterhemden und Unterhosen zu verkaufen. Außerdem waren sie nicht neu und bereits etliche Male gewaschen worden. Das schien niemanden auf der Etage zu interessieren. Sobald ich einer der Frauen unmissverständlich mein „Njet“ zum Ausdruck gebracht hatte, tauchte die nächste auf und erhöhte das Rubel-Angebot.

Beim Abendessen berichtete ich meinen Reisegefährten über die von mir als Nötigung empfundene Aufdringlichkeit und erwartete gleichgesinnte Entrüstung und moralische Unterstützung. Stattdessen blickte ich in erstaunte Gesichter und konnte mir anhören, wie viele Rubel-Scheine inzwischen den Besitzer gewechselt hatten. Ein großer Koffer wäre ungeöffnet in Empfang genommen worden, gegen entsprechende Vergütung. Leibwäsche, vor allem Damenwäsche, wäre gefragt, möglichst in Originalverpackung.

Als ich am nächsten Morgen vom Frühstück zurück auf mein Zimmer kam, wurde ich von drei anderen Etagen-Frauen erwartet. Eine hatte meinen alten Wollmantel am Garderobehaken entdeckt und versuchte mir in internationaler Gebärdensprache klar zu machen, dass sie den brauchen könnte. Nein, unverkäuflich, erwiderte ich in meiner Sprache. Die Rubelscheine häuften sich. Die Bitten wurden drängender, aber ich ließ mich nicht erweichen. Ich konnte doch nicht meinen alten Wollmantel verkaufen. Dennoch hatte ich Mitleid mit den Frauen.
Einen Tag später reisten wir ab. Die Koffer waren weniger und leichter geworden. Meine Reisetasche auch. Meinen Wollmantel hatte ich am Garderobehaken im Zimmer hängen lassen, nicht nur den halben Mantel wie bei dem berühmten Bischof Martin, sondern den ganzen. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, zumindest was die Reisetasche betraf. Daheim erzählte ich, Sankt Martin wäre in Moskau gewesen. (opm)

Foto: R-region/Pixabay

Foto: Privat

Aus: P. J. Dickers, Ein bisschen Sehnsucht

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.