Literarisches: Wieder auf demselben Fluss

Nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Mal bin ich auf demselben Fluss unterwegs. Wahrscheinlich kennen Sie jeden Grashalm am Ufer, spottete jemand.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Ich habe es nicht überprüft. Sollte es so sein, dann habe ich jeden Grashalm immer aus einer anderen Perspektive, zu einer anderen Jahreszeit, im Morgennebel oder in der Abenddämmerung wahrgenommen. Gleich sahen sie nie aus.

Was ich gesehen und erlebt habe, hat sich nicht erledigt. Es beschäftigt mich weiter, regt meine Phantasie an, verwandelt sich und mich. Manche Mitreisende flüchten von einer Sehenswürdigkeit in die nächste. Sie bemerken nicht, dass Zeitlupen-Schritte sie einer Sache näher bringen können. Manchmal erkenne ich etwas kaum wieder, wenn es mir begegnet. Dörfer, Städte und Menschen haben viele Gesichter, manchmal mit einer Patina überzogene Gesichter. Einige sind mir vertraut, nehme sie dann aber neu wahr.

Es gibt auch Mitreisende, die zum ersten Mal mit mir auf einem Schiff unterwegs sind. Auf jeder Reise gibt es neue Begegnungen. Ich lasse sie zu. Überraschendes und Unerwartetes geschieht. Es öffnen sich Horizonte. Menschen kommen in meine Nähe, die bisher weit entfernt von mir waren. Meine kleine Welt erlebt, dass sie Teil einer großen Welt ist. Wir leben nicht in geschlossenen Gesellschaften. Wir bereichern uns, wenn wir andere an uns heranlassen, auf andere zugehen.

Wiesen, Wälder, Dörfer, Städte ziehen am Schiff vorüber. In Wirklichkeit ruhen sie. Das Schiff bewegt sich. Je länger es unterwegs ist, desto mehr verschwimmen die Konturen am Ufer. Die Orientierung droht auf der Strecke zu bleiben. War ich schon einmal hier?
Wiederholung sei die Mutter der Weisheit, sagt ein russisches Sprichwort. Um weise zu werden, muss ich noch etliche Male auf demselben Fluss unterwegs sein. (opm)

Foto: Privat

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Aus: Peter Josef Dickers, Du lieber Himmel. Nicht ganz alltägliche Geschichten

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.