Weihnachtliche Geschichten – „Die lebende Krippe“

Die Tradition hatte sich bewährt und sollte beibehalten werden. Weihnachtszeit war Krippenzeit. Nicht nur Lichterglanz-Folklore, in deren Glanz man sich sonnt. Nicht nur gefühlsselige Momente und Wochen kollektiver Ergriffenheit. Auf dem Marktplatz der Vorstadt-Gemeinde hatte die Krippe seit Jahren ihren angestammten Platz, inmitten von Markt-ständen und vorweihnachtlich hektischer Betriebsamkeit.
Literarisches zur Weihnachtszeit von Peter Josef Dickers

Advent – Keine Krippe mit angestaubten Figuren, die das Jahr über ein Keller-Dasein fristeten, sondern eine lebende Krippe. Leibhaftige Personen, ehren- und weniger ehrenwerte Bürger der Stadt verwandelten sich in Maria und Josef, in Hirten und Sterndeuter. Ochs und Esel zogen vom Stadtrand auf den Marktplatz um. Ein Schäfer, hauptberuflich bei der städtischen Müllabfuhr beschäftigt, stellte einige Schafe zur Verfügung. Die wichtigste Person musste Jahr für Jahr neu bestimmt werden. Ein neugeborenes Kind konnte nur einmal als Kind in der Krippe liegen. Daher musste sich zur rechten Zeit männlicher Nachwuchs einstellen, der die verantwortungsvolle Rolle des Krippen-kindes übernehmen konnte.

Bisher hatte sich das als unproblematisch erwiesen. Aber in diesem Jahr schienen werdende Eltern bzw. gebärwillige Mütter nicht bedacht zu haben, dass eine Niederkunft kurz vor Weihnachten ins Krippen-Konzept der Stadt passen und den Krippenkind-Bedarf auf dem Marktplatz sichern musste. Woher ein Kind nehmen, wenn kein Kind geboren worden war? Es lag keines griffbereit im Schnäppchenregal.
Pressevertreter entwarfen leserwirksame Schlagzeilen für den Fall des Falles, der nicht eintreten durfte. Wie konnte geschehen, was nicht zu geschehen hatte? Welche Fehlplanung war für ein mögliches Dilemma verantwortlich? Zeiten himmlischer Ruh waren vorbei.

Eine Woche vor Heiligabend sickerte die Nachricht durch, ein junges Paar, das auf der Fluchtroute aus einem fernen Land in dieser Stadt gestrandet war, habe unterwegs die Geburt seines Sohnes erlebt. Zwei junge Menschen, auf dem Weg vom Heimatland nach Niemandsland, waren Eltern geworden, ohne zu wissen, wohin sie und ihr Kind gehörten und wo sie mit ihm ankommen würden. Auch den sich zuständig fühlenden städtischen Krippen-Planern kam die Nachricht, die sie für ein Gerücht hielten, zu Ohren. Sie konstatierten, dass der Neuankömmling ein Junge, aber kein amtlicher Bürger der Stadt war. An eine Krippe mit einem namenlosen, heimatlosen, nicht ortsansässigen Kind dachten höchstens realitätsferne Traumdeuter. Tradition blieb Tradition.

Foto: giampaolo555/Pixabay

Migranten, die in jenen Tagen in Wellen das Land überspülten, wollte man nicht abweisen; es musste eine Bleibe für sie gefunden werden. Aber ein Kind, dessen Zugehörigkeit und Identität erst noch zu klären war, kam als Krippenkind nicht in Betracht. Nach welcher Ausrede hätte man gesucht, wenn Gäste aus den Nachbargemeinden erfuhren, dass ihnen ein Krippenkind untergeschoben wurde, das nicht in diese Stadt gehörte?

Die Zeit drängte. Erste Besucher interessierten sich für das über die Stadt hinaus bekannte Ereignis. Eine lebende Krippe ohne Kind war nicht zumutbar. Die Glaubwürdigkeit der Stadt, der Stadtväter und Stadtmütter stand auf dem Spiel. Was sich zur Bedrohung auszuwachsen drohte, musste verhindert werden. Selbst wenn man alles falsch machte, was falsch zu machen war – ein neugeborenes Kind musste gefunden werden. Man war nicht nur der Wahrheit, sondern auch dem Ansehen der Stadt verpflichtet.

Am Heiligen Abend, als die Glocken die Botschaft „Ein Kind ist uns geboren“ über den Dächern der Häuser verkündeten, strahlte ein Neugeborener in eine ihm fremde Welt, die ihn nicht willkommen geheißen hatte, obwohl sie ihn erwartete. Alle, die sich verantwortlich fühlten; alle, die zwischen Abwehr und Fürsprache, zwischen Aufbruch und Verunsicherung geschwankt und mit Erschütterungen des eigenen Lebens zu tun hatten, waren stolz, gewohnte Planungs- und Gehwege verlassen zu haben. Für Flüchtiges und Flüchtende, für Geflüchtete und Angekommene, für Menschen ohne sichere Zukunft, die dennoch ein Recht auf Leben hatten, gab es Herberge in der Stadt, anders als damals in Bethlehem.

Die Glocken trugen die Nachricht hinaus von der lebenden, am Leben orientierten Krippe. Ein unverhoffter göttlicher Lichtstrahl fiel in die von Menschen gestaltete kleine Welt, in der sich bisher Unvereinbares miteinander versöhnt hatte. (opm)


Aus: Peter Josef Dickers, „Du lieber Himmel. Nicht ganz alltägliche Geschichten“, Verlag Neopubli Berlin 2017, 11,99 Euro, ISBN 978-3-7450-7958-6

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.