An der sonnenverwöhnten Südküste Sardiniens, wo das azurblaue Mittelmeer leise gegen Felsen schwappt und der Duft von Myrte und Rosmarin in der Luft liegt, liegt eine archäologische Stätte, die Geschichte atmet: Nora. Die Ruinen dieser antiken Stadt, die heute teils unter Wasser liegen, gehören zu den faszinierendsten historischen Orten Italiens – und sind ein verborgenes Juwel für Reisende, die abseits ausgetretener Pfade das wahre Sardinien entdecken wollen.
Von RS-Redakteur Dietmar Thelen
Reisen/Sardinien – Nora liegt auf der Halbinsel Capo di Pula, rund 30 Kilometer südwestlich von Cagliari. Bereits beim Betreten des Geländes umfängt einen eine stille Ehrfurcht – hier, wo die Zeit scheinbar stillsteht, wandelte man bereits vor über 3.000 Jahren durch gepflasterte Straßen. Gegründet wurde Nora vermutlich von den Phöniziern im 9. Jahrhundert v. Chr., entwickelte sich später zu einer punischen und schließlich römischen Stadt. Ihre strategische Lage machte sie über Jahrhunderte hinweg zu einem bedeutenden Handels- und Verwaltungspunkt im Mittelmeerraum.

Besonders eindrucksvoll sind die Reste der römischen Stadt. Besucher können die klar erkennbaren Grundrisse luxuriöser Villen bestaunen, in denen kunstvoll erhaltene Mosaikböden noch heute von antikem Lebensstil zeugen. Das römische Theater von Nora, das vermutlich im 1. Jahrhundert n. Chr. errichtet wurde, ist eines der am besten erhaltenen auf der Insel – mit Platz für rund 1.000 Zuschauer. Heute finden hier im Sommer regelmäßig Konzerte und Theateraufführungen statt, die das antike Ambiente mit moderner Kultur verbinden.
Ein weiteres Highlight ist das sogenannte „Haus der Nymphen“, in dem ein farbenfrohes Mosaik aus geometrischen Mustern und floralen Elementen erhalten geblieben ist. Die Thermenanlagen, mit ihren gut sichtbaren Hypokausten – dem antiken Fußbodenheizungssystem – lassen die einstige Raffinesse römischer Baukunst lebendig werden. Überall auf dem Gelände stößt man auf Inschriften, Kapitelle, Säulenfragmente und Überreste antiker Tempel, die dem Gott Tanit, später auch römischen Göttern, geweiht waren.

Doch nicht nur das, was über der Erde liegt, fasziniert: Teile von Nora sind heute vom Meer verschlungen, was der Stadt eine geheimnisvolle Aura verleiht. Archäologen vermuten, dass Erdbeben und der allmähliche Anstieg des Meeresspiegels zur teilweisen Überflutung führten. Unterwasserarchäologische Forschungen fördern regelmäßig neue Funde zutage – darunter auch Hafenanlagen, die von Noras einstiger Bedeutung als maritime Drehscheibe zeugen.
Die Lage selbst ist spektakulär: Umgeben von türkisfarbenem Wasser und eingerahmt von schroffen Klippen, bietet der Ort nicht nur historische Tiefe, sondern auch landschaftliche Schönheit. Nur einen kurzen Spaziergang entfernt locken traumhafte Badebuchten mit feinem Sand, während der nahegelegene Torre del Coltellazzo, ein alter Wachturm aus spanischer Zeit, einen Panoramablick über Küste und Ruinen gewährt.
Nora ist mehr als eine archäologische Stätte – es ist ein Ort, an dem man die Zeit berühren kann. Wer hier verweilt, spürt, wie Geschichte, Natur und Mythos ineinanderfließen. Der Ort erzählt nicht nur von vergangenen Imperien, sondern auch von der Vergänglichkeit menschlicher Größe und der unaufhaltsamen Kraft der Elemente.
Für Kulturreisende, Archäologiefans und Sardinienliebhaber ist Nora ein Muss – ein stiller Zeuge einer Welt, die versunken, aber nicht vergessen ist. Und wer mit dem leichten Wind im Haar auf den Stufen des Theaters sitzt und hinaus aufs offene Meer blickt, versteht vielleicht, warum selbst die Römer diesen Ort „Nora“ nannten – vielleicht in Anlehnung an „nurus“, das Licht. Denn Licht, in Form von Wissen, Schönheit und Geschichte, strahlt dieser Ort noch immer in alle Richtungen aus. (dt)
