Inmitten des Mittelmeers liegt eine Insel, die sich jeder schnellen Beschreibung entzieht: Sardinien. Weder italienisch im klassischen Sinn noch vollständig mediterran, steht Sardinien für eine Welt, die sich ihre Eigenheiten, Mythen und Geheimnisse bewahrt hat. Wer hier ankommt, betritt keinen Ort – sondern ein ganzes Universum zwischen Zeitlosigkeit und Überraschung.
Von RS-Redakteur Dietmar Thelen
Reisen/Sardinien – Sardinien ist keine Insel der glatten Postkartenidylle. Vielmehr lebt sie von Gegensätzen: von windgepeitschten Steilküsten und sanften, duftenden Macchiahügeln, von luxuriösen Resorts in Porto Cervo und verlassenen, windstillen Buchten an der Ogliastra-Küste. Die Landschaft wirkt stellenweise fast außerirdisch – wie geformt von Giganten. Tatsächlich gibt es Legenden, nach denen das Eiland von Riesen bewohnt war, lange bevor der Mensch kam. Und vielleicht entstand so auch die Erklärung für die über 7.000 Nuraghen, steinerne Türme, die über die Insel verstreut sind wie die stummen Zeugen einer vergessenen Zivilisation. Ihre genaue Funktion ist bis heute ein Rätsel. Heiligtümer? Wachtürme? Versammlungsorte? Niemand weiß es genau – und das ist Teil des sardischen Zaubers.

Anders als das italienische Festland präsentiert sich Sardinien nicht mit barocker Pracht, sondern mit einer eher spröden Eleganz. Städte wie Nuoro, Oristano oder Sassari sind keine offenen Bühnen für Besucher, sondern zurückhaltende Gastgeber, die ihre Geschichten nur den aufmerksamen Gästen zuflüstern. In den engen Gassen von Bosa mit ihren bunten Häuserfassaden oder im Labyrinth der Altstadt von Alghero, wo Straßenschilder noch auf Katalanisch beschriftet sind, wird diese kulturelle Tiefe greifbar. Cagliari, die Inselhauptstadt im Süden, hingegen offenbart sich spektakulär: Eine Altstadt wie eine Festung, erbaut auf Hügeln, mit Blick über das endlose Blau des Golfo degli Angeli – dem „Golf der Engel“.
Doch nicht nur Städte erzählen Geschichten. Sardinien ist durchdrungen von jahrtausendealten Ritualen, von Festen, die an heidnische Ursprünge erinnern. Beim Karneval von Mamoiada marschieren die Mamuthones in dunklen Masken und Schafsfellen, eine unheimliche Prozession, deren Ursprung bis heute nicht eindeutig geklärt ist. Diese archaische Kultur findet ihren Widerhall auch in der Musik – besonders im Canto a Tenore, einem polyphonen Männergesang, der zum immateriellen Weltkulturerbe gehört und direkt aus dem Herzen der Barbagia zu kommen scheint.

Sardinien kennt kein hektisches Tempo. In den abgelegenen Dörfern lebt man nach dem Rhythmus der Sonne, der Schafherden und der Jahreszeiten. Gerade im Landesinneren zeigt sich die Insel von ihrer ursprünglichsten Seite: Hier wird Pecorino Sardo noch nach altem Handwerk hergestellt, hier sprechen die Alten ein Sardisch, das mehr mit dem Latein der Antike als mit modernem Italienisch gemein hat. Und hier erreicht die sardische Gastfreundschaft ihren wahren Ausdruck – unverstellt, warm, ehrlich.
Die Küche Sardiniens spiegelt diesen Charakter wider: erdig, reduziert, geschmacklich intensiv. Abseits der klassischen italienischen Küche entdeckt man Spezialitäten wie „culurgiones“, mit Minze und Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, oder „bottarga“, getrockneter Rogen der Meeräsche, der gerieben über Pasta ein wahres Geschmackswunder ist. Und dann ist da noch das geheimnisvolle „pane frattau“, eine Hirtenmahlzeit aus geschichtetem Fladenbrot, Tomatensauce und pochiertem Ei – einfach und doch raffiniert.
Wer Sardinien wirklich begreifen will, muss sich Zeit nehmen – Zeit für das Schweigen zwischen den Windböen, für das Lichtspiel auf dem Gestein der Gallura, für das salzige Prickeln nach einem Bad in der Cala Goloritzè. Die Insel offenbart sich nicht sofort. Sie prüft, wer bleibt. Und belohnt dann mit Momenten, die man nicht mehr vergisst.
Sardinien ist mehr als ein Urlaubsziel. Es ist eine Begegnung – mit der Natur, mit alten Kulturen und vielleicht auch mit einer anderen Version von sich selbst. (dt)

