Viersener Köpfe: Theodor Frings

Der Mann, der sich zu seinen Seminarübungen ein Kissen voran und die Tasche hinterher tragen ließ, war einer der wichtigsten Germanisten des 20. Jahrhunderts. Seine interdisziplinären Forschungsansätze, ebenso wie viele seiner sprach- und literaturwissenschaftlichen Publikationen, waren wegweisend für ihr Fach.

Viersen – „Vorliegende Studie will zunächst die […] Frage nach dem Zusammenhang zwischen Dialekt und Geschichte für meine Heimat beantworten. […] Zunächst beobachtete ich die Lautverhältnisse meines Heimatortes, der Stadt Dülken westlich von Düsseldorf.“ So heißt es auf Seite zwei der Einleitung zur Dissertation von Theodor Frings, der mit dieser Arbeit 1911 eine beeindruckende wissenschaftliche Karriere begann. Und weiter: „Der frappante Unterschied im Vocalismus von Dülken-Stadt und Dülken-Land regte zu einer Untersuchung der weiteren Umgebung meiner Heimatstadt an. […] Und damit war der Plan meiner Arbeit gegeben: eine Ort für Ort vorrückende Durchprüfung der Lauterscheinungen meines Heimatortes für das weit ausgedehnte, mehr als 200 Ortschaften umfassende Gebiet […]“. Der junge Sprachwissenschaftler trug das Material auf mehrmonatigen Wanderungen zusammen.


Aus dem Buch „Viersener Köpfe – Bekannte Bürger(innen) unserer Stadt und ihre Geschichte(n)“, Paul Eßer & Torsten Eßer, 20,00 Euro, Taschenbuch/vollfarbig, Historie, 304 Seiten, 19 x 22,5 cm, ISBN 978-3-944514-21-5, Kater Literaturverlag (Viersen)
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Geboren wurde Theodor Frings als ältestes von vier Kindern am 23. Juli 1886 in Dülken, Sohn des Buchbinders Constantin Frings und seiner Frau Sophia (geb. Jansen), wie es seinem Lebenslauf zu entnehmen ist. Er besuchte die Volks- und Realschule seiner Heimatstadt, und danach die Oberrealschule in Mönchengladbach, wo er 1906 das Reifezeugnis erhielt. Er studierte dann in Marburg und Leipzig deutsche, englische und französische Philologie, musste aber zwischendurch noch eine Lateinprüfung in Koblenz nachholen, damit er 1910 in Marburg sein Examen ablegen konnte. Von 1911-1917 hatte er als Lehramtskandidat bzw. Lehrer Stellungen an verschiedenen Bonner Schulen inne, und arbeitete zugleich am „Wörterbuch der Rheinischen Mundarten“ von Professor Johannes Frank an der Universität Bonn mit. Dort habilitierte er sich 1915 bei Rudolf Meißner zum Thema „Die rheinische Accentuierung“, und heiratete im gleichen Jahr Hedwig Schmitz. Sie hatten zwei Kinder, Gisela und Dietmar, aber die Tochter starb 14-jährig an Leukämie, der Sohn ging im II. Weltkrieg mit einem U-Boot unter. Schon 1917 erhielt er die Stelle eines außerordentlichen Professors in Bonn, zwei Jahre später wurde er auf den Lehrstuhl für deutsche Philologie – mit Schwerpunkt auf niederdeutscher und niederländischer Philologie, sowie Mundart – berufen, den er bis 1927 bekleidete, inkl. einer Gastprofessur in Amsterdam, in den Jahren 1922-23.

Frings war schon sehr früh davon überzeugt, dass die Sprachgeschichte ein wesentlicher Kern der Menschheitsgeschichte ist und nicht isoliert betrachtet werden sollte. Darum arbeitete er schon in Bonn mit Historikern, Volkskundlern, Niederlandisten und Romanisten zusammen, um Kulturräume zu beschreiben. Sie gehören somit zu den Begründern der „Kulturmorphologie“, einer Forschungsrichtung, in der die Dialektgeographie, die Landesgeschichte und weitere Wissenschaftsdisziplinen zu einer Zusammenarbeit fanden. Im interdisziplinär angelegten Werk „Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden“, das er zusammen mit dem Historiker Hermann Aubin und dem Volkskundler Josef Müller verfasste, schreibt er: „Der Sprachforscher […] macht seine Sprachgeographie zur Unterabteilung der Kultur- und Geschichtsgeographie. Sie will zugleich dienen und regieren. […] Sie heischt ihren Lohn in Gestalt einer tieferen Begründung der Zusammenhänge zwischen sprachlicher und politischer Geographie, die sie im übrigen bereits erkannt hat.“ Im Vorwort der unveränderten Neuauflage von 1966 wird das Werk als „Grundlagenwerk der rheinischen Landesforschung“ und „Denk-mal der Wissenschaftsgeschichte“ bezeichnet. „Die lebenden Mundarten sind der heutigen Forschung sicherster Erkenntnisquell“, schrieb er an anderer Stelle. Über ihre Untersuchung gelangte er zu den Fragen (und Antworten) der Territorial- und Kulturgeschichte. Aber er setzte seine Vorstellungen nicht nur theoretisch um, sondern auch in der Praxis: 1920 gründete er mit Aubin in Bonn das „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“, das, umbenannt, noch heute existiert.

Schon in seiner eingangs zitierten Dissertation hatte er die Ergebnisse anderer Wissenschaften mit einbezogen und zeichnete so „das detaillierte und facettenreiche Bild einer Mundartlandschaft, die ein Übergangsgebiet formt zwischen dem niederfränkischen Niederrhein und dem ripuarischen Rheinland, und ihrer Geschichte.“

Foto aus dem Buch „Viersener Köpfe – Bekannte Bürger(innen) unserer Stadt und ihre Geschichte(n)“, Paul Eßer & Torsten Eßer

Dabei bot ihm das Rheinland als dialektgeographisch vielfach gefächerte Region das ideale Forschungsgebiet: denn hier existiert keine landschaftsumfassende Großmundart, sondern ein Flickenteppich von 314 Dialekten, sowie einigen pfälzischen Sprachinseln (Louisen- und Pfalzdorf) und Sondersprachen (Henese Fleck). „Eine einheitliche Sprache als unerläßliches Merkmal einer über das eigene Dorf hinausgehenden Gruppenidentität stand und steht dem Niederrheiner nicht zur Verfügung.“ Das macht es kompliziert, aber eben auch hochinteressant. In und um Dülken treffen kleverländische und kölsche Dialektformen aufeinander, beeinflusst wiederum von niederländisch-limburgischen Mundarten. Diese Konstellation hat Frings nachhaltig beeindruckt und sein Leben lang beschäftigt. Aber seine Arbeit glänzte nicht nur durch die Fülle des gesammelten und analysierten Materials, sondern er entwickelte das Erkenntnisinstrument der kulturhistorischen Karte/ Sprachkarte auf brillante Art weiter, als Gegenkonstrukt zur Karte der Verwaltungsgrenzen und administrativ definierten Raume.

Grenzüberschreitung

(Sprach)Grenzen haben Frings immer gereizt, auch um sie zu überschreiten. Und so zog er für seine Forschungen auch das Französische als Vergleichsobjekt heran, vor allem aber das Niederländische, als Nachbarsprache und Verwandter seiner eigenen Mundart. Im Kriegsjahr 1917 fasste Frings den Plan südniederländische Dialekte aufzuzeichnen, und zwar in einem Lager mit belgischen Kriegsgefangenen bei Göttingen. Dort traf er auf Jozef van den Heuvel, einen flämischen Germanisten, der dort seit einiger Zeit einsaß und zuvor über die west-ostflämische Dialektgrenze gearbeitet hatte. Frings schaffte es van den Heuvel aus dem Lager zu sich nach Bonn zu holen, wo sie zusammen arbeiteten. Danach besorgte ihm Frings eine Stelle als Mitarbeiter am „Deutschen Sprachatlas“ bei Ferdinand Wrede in Marburg. Van den Heuvel kehrte mit Kriegsende nach Belgien zurück und Frings verlor zunächst den Kontakt. Bei der Veröffentlichung des gemeinsamen Werkes „Die südniederländischen Mundarten“ schrieb er im Vorwort: „Freund van den Heuvel weiss nicht, dass die Arbeit, die ihm über manche leidvolle Stunde hinweggeholfen hat, gedruckt ist. Seit dem Ausgang des Krieges sind wir getrennt und ohne Verbindung. […] Sollte ihn das Buch zufällig erreichen, so sei es ihm ein herzlicher Gruss.“ Kurz zuvor hatte Theodor Frings noch ein Buch über flämische Literatur veröffentlicht.

Im Jahr 1927 folgte Theodor Frings einem Ruf als Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Universität Leipzig, eine Stellung, die er bis zu seinem Ruhestand 1957 bekleidete (und wo er noch bis 1968 weiter dozierte). Drei Jahre später wurde er dort auch zum Mitglied der „Sächsischen Akademie der Wissenschaften“ gewählt. Jetzt weitete er seine Forschung auf den ostmitteldeutschen Raum aus, den er mit den im Rheinland entwickelten Methoden untersuchte. Ausgehend von den lautlichen und morphologischen Gegebenheiten der Dialekte und von namenkundlichen Belegen rekonstruierte er ältere Sprachschichten, und konnte so zusammen mit dem Historiker Rudolf Kötzschke in dem Werk „Sprache und Siedlung im mitteldeutschen Osten“ eine, die historischen Zeugnisse ergänzende Siedlungsgeschichte des ostmitteldeutschen Raumes belegen. Auch richtete er in Leipzig bald nach seinem Amtsantritt eine Arbeitsstelle für ein „Obersächsisches Wörterbuch“ ein sowie eine weitere für das „Althochdeutsche Wörterbuch“.

Machtergreifung

Als die Nazis an die Macht kamen, unter-zeichnete Frings 1933 mit hunderten anderen Wissenschaftlern, das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. In einem Vortrag zur „Europäischen Heldendichtung“, den er im Mai 1936 in Groningen hielt, äußerte er sich positiv über das NS-Regime, und in Briefen schrieb er, das inzwischen von den Nazis vereinnahmte Bonner Institut sei eines „der wachsamsten Grenzinstitute deutscher Geschichtswissenschaft.“ Theodor Frings, der nie Mitglied der NSDAP war, sich aber von Fall zu Fall mit den Nazis arrangierte, um seine Arbeit zu sichern, scheute aber auch keine Auseinandersetzung mit ihnen: er protestierte gegen Naziaufmärsche an der Universität, setzte sich für von den Nazis attackierte Wissenschaftler ein, und trat 1937 von seinem Posten als Vorsitzender Sekretär der Akademie zurück, weil er die Diskriminierung jüdischer Mitglieder der Akademie nicht verantworten wollte. Nichtsdestotrotz wählte man ihn 1938 zum korrespondierenden Mitglied der „Bayerischen Akademie der Wissenschaften“.

Eine gewisse „Anpassungsfähigkeit“ bewies er auch nach dem Krieg: 1945-46 gab er ein kurzes Zwischenspiel an seinem alten Institut in Bonn, verfasste aber schon 1946 einen kurzen Aufsatz über Friedrich Engels als Philologe und zog dann wieder nach Leipzig, in die sowjetische Besatzungszone, ohne jedoch jemals Mitglied der SED zu werden. Zurück in Leipzig wählte man ihn sofort zum Präsidenten der „Sächsischen Akademie der Wissenschaften“ (bis 1965). Ab 1952 leitete er zusätzlich das „Institut für Deutsche Sprache und Literatur“ in Ost-Berlin (bis 1964), wo er u.a. die Arbeiten am „Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm“ verantwortete.

In Leipzig verstärkte Frings ein Forschungsfeld, dass er bis dahin weniger bearbeitet hatte: Die frühe deutsche Lyrik, den Minnesang. Seine Vorträge zur „Entstehung der deutschen Spielmannsepen“ (1938) und über „Minnesinger und Troubadours“ (1949) nennt Morenz „Marksteine in der Erforschung des Minnesangs“. Frings Untersuchungen zur Helden- und Spielmannsepik sowie zum Minnesang lenkten den Blick der Germanisten auf europäische Zusammenhänge, so dass ganzen Forschungsbereichen neue Horizonte eröffnet wurden. Dem Wegbereiter höfischer Epik, dem aus dem heutigen Limburg stammenden Minnesänger Heinrich von Veldeke (ca. 1150-1190), widmetet Frings einen großen Teil seiner Lebensarbeit: Er editierte dessen „Servatiuslegende“ (6.000 Verse über den Maastrichter Lokalheiligen) und arbeitete seit den frühen 1950er Jahren an dessen „Eneasroman“ (oder „Eneide“), der 13.500 Verse lang ist. Nach vielen Vorarbeiten gab er ihn schließlich zusammen mit Gabriele Schieb in drei Bänden in einer „zurückübersetzten“ Fassung heraus, bei der sie Veldekes limburgischen Dialekt aus anderen Quellen rekonstruierten. Das wird von der heutigen Forschung kontrovers betrachtet, da es keinen Beweis für eine originale Mundart-Version gibt. Wie bei seinen sprachlichen Untersuchungen drängte es Frings auch bei der literarischen Forschung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Einzelnen zur Grundlegung. „Selten hat ein Forschungsbericht solche Berühmtheit erlangt wie der von 1950 zur Erforschung des Minnesangs.“ Eine Verbindung von Genauigkeit und Sorgfältigkeit im Einzelnen und von Großzügigkeit und klarer Einfachheit im Ganzen kennzeichnen hier, aber auch insgesamt die Arbeitsweise von Theodor Frings.

Für sein wissenschaftliches Werk, rund 500 Publikationen, aber auch für seine Rolle als Wissenschaftsorganisator, der diverse Institute und Arbeitsstellen gegründet, sowie wichtige Wörterbücher und Zeitschriften mit herausgegeben hat, erfuhr Frings vielfache Ehrungen: U.a. wurde er zum Ehrendoktor der Universitäten Amsterdam (1937), Gent (1963) und Leipzig (1966) ernannt, er erhielt zweimal den Nationalpreis der DDR für Wissenschaft und Technik (1949/1961) und den Vaterländischen Verdienstorden in Silber (1954) und Gold (1959). Er war darüber hinaus Mitglied in rund 20 wissenschaftlichen Gesellschaften im In- und Ausland. In der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag steht folgende Widmung: Theodor Frings, dem „unermüdlichen Kämpfer für die Weltweite der Wissenschaft und die geistige Verbundenheit ihrer Vertreter.“ Sein Nachlass, fast 24m Akten, lagert im Archiv der „Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“.

Frings heute

Der Mann, der sich zu seinen Seminarübungen ein Kissen voran und die Tasche hinterher tragen ließ, verlangte auch seinen Gegnern Respekt ab, Teile seines Werkes allerdings gelten als überholt, wie seine dialektgeographische Erklärung der Entstehung der neuhochdeutschen Einheitssprache. Auch dass die 2. Lautverschiebung schon lange vor der Herausbildung der Territorialstaaten stattgefunden hat und nicht Folge derselben war, steht inzwischen fest. Frings’ Gesamtwerk bleibt indes bedeutend auch für heutige Forschungen.

Das allerdings wird Frings‘ eigenen Dialekt und die Dialekte am Niederrhein nicht retten: Der Dialekt wird infolge der zunehmenden Urbanisierung und Industrialisierung sowie des rasanten Wandels der Kommunikationsformen ausgestorben sein, bevor eine aufgeklärtere Pädagogik als die herrschende ihn als private Zweitsprache bewahren oder wiederbeleben kann und ihn vielleicht sogar als eine Art „Goldreserve“ (Martin Walser) des Hochdeutschen zu würdigen lernt. Die dialektgeprägten Kinder vom Niederrhein erfuhren ihre Bilingualität in der Schule statt als Bereicherung stets nur als Belastung, und mussten erleben, wie die Hochsprache so zur Feindin der Mundarten wurde.

Nach Theodor Frings, der noch 1966 bekannte, dass das Dülkener Platt seine niederrheinische Mundart sei, ist in Dülken die Theodor-Frings-Allee benannt. Kurz vor seinem Tod, am 6. Juni 1968, verlieh ihm die Dülkener Narrenakademie die Ehrendoktorwürde, und 1985 widmete der Kreis Viersen ihm eine Gedenkmedaille. Die „Sächsische Akademie der Wissenschaften“ und die Universität Leipzig vergeben seit 1995 den „Theodor-Frings-Preis“, in Anerkennung hervorragender Leistungen auf dem Gebiet der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie für germanistische Forschungen mit interdisziplinärem Ansatz. Bis 2017 erhielten 15 Preisträger die Prämie in Höhe von 2.000,- €. (pe/Viersener Köpfe)