Versteckt zwischen Lagunen, Windrädern und uralten Wacholderbüschen liegt auf Sardinien eine Welt, die beinahe aus der Zeit gefallen scheint: die Welt der Salzfelder.
Von RS-Redakteur Dietmar Thelen
Reisen/Sardinien – Während das Meer unaufhörlich gegen die felsige Küste schlägt und das Licht der Sonne den Horizont in flüssiges Gold taucht, wird hier eine Kunst gepflegt, die älter ist als die meisten Sprachen Europas – die Salzgewinnung. Doch wer heute über die endlosen Reihen geometrisch angeordneter Becken blickt, denkt kaum an die Mühen und Intrigen, die einst mit diesem kristallinen Rohstoff verbunden waren.

Sardinien war nie einfach nur ein Ort. Es war ein begehrtes Ziel für Phönizier, Römer, Spanier, Pisaner – und alle einte die Gier nach Salz. Schon früh erkannten die Menschen, dass die salzhaltigen Lagunen im Süden und Westen der Insel ideale Voraussetzungen boten, um aus dem Meer jenes Gut zu extrahieren, das nicht nur Fisch haltbar machte, sondern auch politische Macht sicherte. Die ältesten Spuren systematischer Salzgewinnung finden sich in der Nähe von Cagliari und in der Sinis-Halbinsel. An diesen Orten kombinierte man geschickt das Zusammenspiel aus Gezeiten, Wind und Verdunstung – ein vollkommen naturbasierter Prozess, der kaum Energie brauchte, nur Geduld und Erfahrung.
Im Mittelalter übernahmen klösterliche Gemeinschaften in abgelegenen Regionen die Verantwortung für viele der Salinen. In handschriftlichen Dokumenten wurden die Abläufe festgehalten, die Regeln für die Erntezeiten definiert und auch die Verteilung geregelt. Salz war nicht nur Zahlungsmittel, sondern wurde sogar als medizinisches Produkt geschätzt – etwa zur Wundreinigung oder als Konservierungsmittel für Heilpflanzen. Der Wert des „weißen Goldes“ führte sogar dazu, dass die Salinen oft militärisch geschützt wurden. Die massive Festung von Calasetta beispielsweise hatte nicht nur die Aufgabe, die Bevölkerung vor Piratenangriffen zu schützen – sondern auch die wertvollen Salzvorräte der Region.

Die Industrialisierung brachte tiefgreifende Veränderungen mit sich. Mit dem Bau von Eisenbahnlinien wurden große Mengen Salz erstmals schnell ins Inselinnere und aufs Festland transportiert. Neue Maschinen ersetzten zum Teil die mühselige Handarbeit, doch in vielen Familien blieb das Wissen um die traditionelle Gewinnung erhalten. Bis heute ist das Handernten von Salz – meist im Hochsommer, wenn die Verdunstung am höchsten ist – eine präzise Choreografie aus Erfahrung, Intuition und körperlicher Ausdauer. Die Salinenarbeiter, oft in langen Gummistiefeln und mit breiten Holzharken ausgestattet, bewegen sich mit beinahe tänzerischer Anmut durch das leuchtende Weiß, das mit jeder Bewegung knirscht.
Ein besonders magischer Ort ist die Saline von Carloforte auf der Insel San Pietro. Hier färbt sich das Wasser der Becken bei bestimmten Bedingungen rosarot, verursacht durch Mikroorganismen, die sich bei hoher Salzkonzentration ansiedeln. Diese natürliche Färbung zieht nicht nur Fotografen aus aller Welt an, sondern spielt auch eine Rolle in der Qualität des Salzes selbst. Das sogenannte „Fior di Sale“ – die zarte Salzblume – bildet sich an windstillen Tagen als hauchdünne Kruste auf der Wasseroberfläche und wird von Hand abgeschöpft. Es ist besonders fein im Geschmack und reich an Kalium und Magnesium.
Heute ist Salz von Sardinien längst mehr als ein Rohstoff. Es ist ein Kulturgut, ein Landschaftselement, ein Aushängeschild für nachhaltige Wirtschaft. In vielen Regionen wurden ehemalige Industrieanlagen zu Naturschutzgebieten umgewandelt, in denen Flamingos brüten und Besucher auf Holzstegen durch die surrealen Weiten der Salzlandschaften spazieren. Führungen durch aktive Salinen verbinden ökologische Bildung mit sinnlicher Erfahrung – das Knirschen unter den Füßen, der Duft von Meer und Algen, das Glitzern der Kristalle in der Hand. In kleinen Läden vor Ort kann man handgeschöpftes Meersalz kaufen, das in der sardischen Küche unverzichtbar ist – sei es für Lammgerichte, eingelegte Oliven oder handgemachte Pecorino-Rezepte.
Was bleibt, ist der Eindruck, dass Sardinien nicht nur eine Insel im Mittelmeer ist, sondern ein lebendiges Archiv menschlicher Geschichte. Und das Salz – das scheinbar so unscheinbare Gewürz – erzählt darin eine der tiefsten, glänzendsten und beständigsten Geschichten. (dt)

