Zwischen Himmel und Erde: Zeitreise durch zwölf Jahrhunderte Glauben, Wandel und Beständigkeit.
Von RS-Redakteurin Sabrina Köhler
Stadtgeschichte/Viersen – Wer heute die Kirche St. Remigius im Herzen der Viersener Innenstadt betritt, ahnt kaum, dass unter seinen Füßen eine der ältesten Spuren christlicher Sakralarchitektur des Rheinlandes ruht. Die heutige Pfarrkirche steht auf einem Fundament, das bereits vor dem Jahr 843 gelegt wurde – ein eindrucksvolles Zeugnis der fränkischen Missionierung und ein stiller Zeuge der langen und bewegten Geschichte dieses Ortes.

Die Wurzeln von St. Remigius reichen tief: Noch bevor die Stadt Viersen in den Chroniken auftauchte, errichteten die Franken eine schlichte Saalkirche – 17 Meter lang, 8,70 Meter breit – mit einem offenen Chorraum. Ihre Fundamente blieben über Jahrhunderte verborgen, bis sie 1982 bei Umbauarbeiten wieder ans Licht kamen. Heute können Besucher durch ein Glasfenster im Boden des Mittelschiffs einen Blick in die frühe Zeit der Kirche werfen. Es ist, als würde man durch ein Fenster in die Geschichte schauen – konkret, greifbar, ehrfürchtig.
Die Wahl des Patroziniums – St. Remigius, der legendäre Bischof von Reims, der König Chlodwig taufte – verrät viel über die Bedeutung, die dieser Ort einst hatte: ein Ort der Wandlung, der Christianisierung, ein Ort des Neubeginns.

Die heutige Gestalt der Kirche ist das Ergebnis von Jahrhunderten architektonischen Feingefühls, behutsamer Anpassung und immer wieder auch des Wiederaufbaus nach Katastrophen. Besonders markant: der Westturm, erbaut in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Doch schon um 1500 wurde er beschädigt und musste restauriert werden. 1667 raffte ihn ein Sturm, die schmückende Balustrade wurde entfernt – ein Eingriff, der das äußere Erscheinungsbild deutlich veränderte. Erst Ende des 19. Jahrhunderts, zwischen 1895 und 1897, wurde die Balustrade wiederhergestellt – als Ausdruck eines wachsenden historischen Bewusstseins.
Der Zweite Weltkrieg schließlich hinterließ tiefe Wunden. Fliegerbomben setzten 1945 das Gotteshaus in Brand, zerstörten Gewölbe, Dachstuhl und große Teile der neugotischen Innenausstattung. Doch die Gemeinde ließ sich nicht entmutigen: Mit viel Engagement wurde zwischen 1953 und 1955 ein neuer Helm aufgesetzt, 1962 folgte ein neuer Glockenstuhl.

Die Umgestaltung zur dreischiffigen Hallenkirche mit erhöhtem Mittelschiff und dreiseitig geschlossener Apsis Ende des 15. Jahrhunderts markierte den baulichen Höhepunkt der Kirche. Es gelang den Baumeistern, das Bestehende harmonisch zu integrieren – ein Kunststück spätgotischer Baukunst. Und auch im Inneren spricht St. Remigius viele Sprachen: Die Apostelfiguren des Hochaltars von 1869 etwa fanden eine neue Heimat als Wandkonsolen in den Seitenschiffen – ein eindrucksvolles Beispiel, wie Kunst erhalten und neu interpretiert werden kann.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die heutigen Weihwasserbecken. Ursprünglich als verzierte Blattkonsolen mit Köpfen im Chor verbaut, wurden sie nach dem Krieg umfunktioniert – ein subtiler Hinweis darauf, wie in St. Remigius Altes nicht vergessen, sondern neu belebt wird.

Bei der großen Umbauphase 1982–1983 kam neben dem fränkischen Fundament noch ein weiteres Stück Vergangenheit ans Licht: 27 Bestattungen wurden entdeckt, darunter sechs Priestergräber – eines davon sogar aus der Zeit der Saalkirche. Sie erzählen von Menschen, die über die Jahrhunderte hinweg ihr Leben dem Glauben widmeten – stille Hüter eines Ortes, der niemals nur Steine war, sondern stets auch gelebte Gemeinschaft.
Die Pfarrgemeinde St. Remigius ist heute Heimat für über 20.000 Katholikinnen und Katholiken. Ihr Einzugsgebiet reicht von der Innenstadt bis in die ländlich geprägten Ortsteile Bockert, Helenabrunn, Hamm und Rahser. 2009 und 2011 verschmolzen im Zuge zweier Fusionsprozesse mehrere eigenständige Kirchengemeinden zur neuen Großpfarrei St. Remigius – ein Prozess, der weit über das Administrative hinausging. Er war Ausdruck einer neuen, gemeinsamen Identität.

Zahlreiche Filialkirchen – St. Helena, St. Joseph, St. Marien, St. Notburga, St. Peter und die Kapelle St. Konrad – gehören zur neuen Struktur. Die Kirche St. Joseph wurde 2012 zur Grabeskirche umgestaltet – ein Raum für Trauer, Gedenken und Hoffnung. Heute ist St. Remigius nicht nur spirituelles Zentrum, sondern auch soziales Herz der Stadt. Das Kinderheim Don Bosco, das Jugendzentrum horizOnT, neun Kindertagesstätten, das Notburgahaus, zwei Pfarrbüchereien, Musikgruppen, Verbände und die enge Zusammenarbeit mit Schulen und Krankenhaus zeugen von einem breiten Engagement – getragen von Ehrenamt und Professionalität, vereint im gemeinsamen Pastoralkonzept, das seit 2013 als Leitbild dient. Im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, Stadt und Land, Liturgie und gelebter Caritas bleibt St. Remigius ein Ort der Beheimatung, der Vernetzung – und der Hoffnung. (sk)


