Leserbrief zur Primusschule Viersen: Darum wollen die Eltern den Schulversuch verlängern

Um das Bildungssystem in Deutschland ist es schlecht bestellt, das ist längst kein Geheimnis mehr. So diskutiert u.a. Markus Lanz zur Prime Time mit seinen Gästen und alle sind sich einig: „Ein schon ziemlich altes Thema ist akuter denn je. Bislang habe man es verschlafen, dem fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandel mit neuen Konzepten zu begegnen“, so der Erziehungswissenschaftlicher Prof. Dr. El Mafaalani.

Leserbrief/Viersen-Dülken – Schon seit den ersten Pisa-Erhebungen wurde Deutschland für die (Zer-)Gliederung des Schulsystems getadelt. Deutschland steht international allein auf weiter Flur. Der Schulentwicklungsforscher Prof. Wilfried Bos sagt: „95% aller Schulsysteme weltweit bieten sechs Jahre gemeinsame Beschulung in der Grundschule, drei Jahre in der Sekundarstufe I und dann erst die Trennung. Einige dieser Systeme kennen kein Sitzenbleiben und Verzichten bis zur achten Klasse sogar auf eine Benotung. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – erreichen sie, wie nicht nur skandinavische Länder zeigen, Spitzenergebnisse“.

Bei der frühen Selektion werden viel zu früh die Weichen für die gesamte Schullaufbahn gelegt. Die eher schwächeren, langsameren Schüler werden von den eher stärkeren getrennt. Die einen bekommen so insgeheim den Stempel „schlechte Leistungserbringer“ und bei den anderen wächst viel zu früh der Druck und die Jagd nach Leistung und Noten, was in Stress und auch zu gesundheitlichen Problemen ausarten kann. Tendenz steigend. Dies zeigt u.a. eine repräsentative Studie der DAK: „Jeder zweite Schüler leidet unter dem Druck der Schule“. Das Phänomen Schulmüdigkeit bis hin zu Schulverweigerung nehme zu. Die Nachhilfebranche boomt und übernimmt die Aufgabe der individuellen Förderung. Aber: Sollte diese nicht doch eigentlich in der Schule stattfinden?

Befasst man sich mit den Themen Bildung und Schule etwas genauer, so stößt man neben diesen Fakten auch auf diese: Die Entwicklungsschere der Erstklässler umfasst mittlerweile drei Jahre, d.h. das Lebensalter eines Kindes sagt nicht per se etwas darüber aus, ob es schon seinen Namen schreiben kann oder weiß, was zwei plus zwei ist. Der eine kann das schon sehr gut, die andere aber noch nicht, dafür aber kennt sie alle Dinosaurier, er kann bereits zwei Bahnen schwimmen und sie kann den Rhythmus eines Songs im Radio mit einem Stock mitschlagen. Hier heißt das Schlagwort „Jahrgangsübergreifender Unterricht“, bei dem jedes Kind dort abgeholt wird, wo es steht, sich auf den Weg macht, sich in seinem individuellen Tempo Wissen und Fertigkeiten anzueignen.

Sir Ken Robinson, ein britischer Bildungsforscher, bescheinigt unserem Bildungssystem, dass es ausgedient habe, denn es war für eine andere Gesellschaft entwickelt worden, nämlich für das Zeitalter der industriellen Revolution und der Aufklärung, das auf Konformität, Gleichklang und Standardisierung setzte, um am Fließband Produkte herzustellen, die die Wirtschaft vorantreiben. Unsere Gesellschaft ist mittlerweile eine andere, entwickelt sich rasant und komplex weiter. Globalisierung, Armut, Migration und Klimawandel sind große Merkmale der heutigen Zeit. Daraus resultiert Vielfalt statt Konformität, Komplexität sowie Vielschichtigkeit statt Linearität und Einheitlichkeit. Das Bildungssystem daran anzupassen, stellt uns alle vor eine immense Herausforderung, unsere Kinder auf diese Welt vorzubereiten, ihnen die Fähigkeit zu geben, sich zurecht zu finden und einen Platz in ihr zu finden, um sich wohl und sicher zu fühlen. Dabei ist es mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, Meiose und Mitose voneinander zu unterscheiden oder die Molzahl der chemischen Elemente zu kennen. Es bedarf viel mehr Fähigkeiten statt Wissen. Richard David Precht fordert daher statt einer Bildungsreform eine Bildungsrevolution.

Mit all diesen Ausführungen werden v. a. drei entscheidenden Stellschrauben sichtbar, die unsere Schullandschaft positiv beeinflussen. Gerade diese Stellschrauben sind im Konzept der PRIMUS-Schulen verankert und überzeugen uns Eltern:

Da geht es zum einen um ein längeres gemeinsames Lernen, um von der zu frühen Selektion entlastet zu sein. Zum anderen geht es um das jahrgangsübergreifende Unterrichten, in dem die Schüler/innen nicht nur die Rolle der Lernenden innehaben, sondern auch aktiv ihr Wissen anderen zur Verfügung stellen und sich so auch als Lehrende selbstwirksam erfahren. Zum dritten sei der möglichst selbstgesteuerte Lernprozess (natürlich entsprechend der gültigen Lehrpläne), der regelmäßig gemeinsam mit den Lehrkräften reflektiert sowie bewertet statt zensiert wird, erwähnt. Gerade zu letzterem sei die „Hattie-Studie“, eine groß angelegte Studie aus dem Jahre 2009, erwähnt. Hier wurden über 800 wissenschaftliche pädagogische Studien auf Wirkfaktoren für ein gelungenes Lernen und optimale Bildungsvoraussetzungen hin untersucht. Es mag den ein oder anderen überraschen, doch einer der stärksten Wirkfaktoren für Lernerfolg ist die Selbsteinschätzung des eigenen Lernniveaus. Dies bezeugen eindeutig die Ergebnisse dieser Studie. Mit dem Schulversuch PRIMUS-Schule werden in NRW an fünf Standorten neue Unterrichtprinzipien erprobt, Unterrichtsprinzipien, die sich als Lösungen für neuralgische Punkte unseres antiquierten Bildungssystem fast schon aufdrängen und sich bereits in anderen Ländern bewährt haben. „In keinem anderen Bundesland bzw. Schulversuch wird in dieser Konsequenz an der Entdramatisierung der Problematik des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe gearbeitet“, heißt es in der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Primus Schulversuch.

Bereits der erste, aber auch der zweite wissenschaftliche Evaluationsbericht der Universitäten Münster, Bremen und Oldenburg stimmen positiv. „Alle Primus-Schulen haben im fairen Vergleich mit Schulen, die über ähnliche Schülerkompositionen verfügten, sehr gut abgeschnitten“. „Es zeichnet sich ab, dass an allen PRIMUS-Schulen die Schüler*innen im Verhältnis zu ihren Schulwahlempfehlungen nach Jahrgang vier tendenziell den nächst höheren Bildungsabschluss erzielt haben“. Weitere Forschungsergebnisse sind vielversprechend und stimmen die Wissenschaftler optimistisch, sodass es in der Empfehlung an das Ministerium für Schule und Bildung heißt: „Wir empfehlen, bildungspolitisch sicherzustellen, dass die Primus-Schulen eine über das 2024 hinausgehende Perspektive erhalten, um die begonnene Reform so weiterführen zu können, dass diese in ihrer möglichen Attraktivität für andere Schulen und für Standorte als Bereicherung ihrer Bildungslandschaft sichtbar wird“. So ist es umso erfreulicher, dass der Landtag NRW im Frühjahr 2022 die Verlängerung des Schulversuchs im Schulgesetz verankert hat. Nur so können jetzt auch wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt werden, wie die Schule in einem „Normalbetrieb“ mit vollem Schülerumfang funktioniert. Mit einem direkten Abbau des Schulversuchs nach dem zehnjährigen Aufbau hätte man nämlich nie die Möglichkeit, die Schule im Vollausbau zu erleben, da man ja direkt Kraft und Energie für den stufenweisen Abbau zu investieren. Aber dies ist nun endlich für drei Jahre möglich. Und es kommt sogar besser: Aufgrund des hohen Anklangs wird im Koalitionsvertrag bereits von einer Verstetigung dieser Schulform in der Schullandschaft gesprochen. Zu Recht, sagen wir Eltern, Schüler*innen, Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen und Befürworter*innen der PRIMUS-Schulen in NRW. Aber was macht Viersen?

Die Ratsmehrheit bestehend aus CDU, SPD und FDP sagt: Nein Danke, wir wollen zurück in die alten Zeiten. Man argumentiert: Der Schulversuch sei in Viersen nicht gut angekommen. Aber diese Behauptung bedarf dringender denn je einer differenzierten Betrachtung. Fakt ist, dass die Anmeldezahlen an der PRIMUS-Schule zuletzt im dritten Jahr gestiegen sind. Durch den Wechsel des Leitungsteams und einem deutlich verbesserten Austausch mit ihrem Träger hat es in den letzten zwei Jahren einen beispiellosen Aufschwung an Energie und Tatkraft gegeben, sodass es jetzt richtig los gehen kann. Das ist deutlich spürbar und zeigt sich an einzigartigen Projekten und Angeboten für die Schüler*innen.

In der wissenschaftlichen Evaluation heißt es speziell über den Standort Viersen: „Die Probleme am Standort Viersen und der daraus entstandene Imageschaden für PRIMUS sind nicht auf den Schulversuch selbst zurückzuführen, sondern auf Verwerfungen in der kommunalen Schulentwicklung vor Ort. Am Fall Viersen lässt sich insofern exemplarisch rekonstruieren, wie Schulreform unter widrigen Kontextbedingungen gefährdet wird und in eine unverschuldete Krise geraten kann.“

Viersen zeigt sich unbeeindruckt von den Expertisen der Wissenschaft, unbeeindruckt von den vielen Befürwortern der erprobten Unterrichtsprinzipien sowie des Optimismus´, der nun allerorten herrscht, denn die „unverschuldete Krise“ galt bereits als überwunden. Warum hat man denn nicht genauer nachgefragt? Warum hat man die Schule nicht besucht, um sich ein Bild davon zu machen? Warum hat man den forschenden Wissenschaftlern kein Wort bei den Schulausschusssitzungen erteilen wollen?

In den sozialen Netzwerken argumentieren die Mitglieder der entsprechenden Parteien, dass `Demokratie nun mal so funktioniere´. `Das habe man nun zu respektieren`. Kritische Beiträge und Rückfragen werden blockiert. Bei allem Glauben an die Demokratie in unserem Land: So kann Demokratie doch nicht gemeint sein; dass die gewählten Volksvertreter für die Dauer ihrer Amtszeit Entscheidungen treffen, die sich so sehr von den aktuellen Fakten, den Plänen und Entscheidungen der Landesregierung, den Paradigmen der eigenen Landesparteien und sogar den wissenschaftlichen Empfehlungen unterscheiden. Es kommt leider noch schlimmer, denn offenkundig hält man als Argumentationsgrundlagen an einem Gutachten fest, dass zum einen tendenziös gefärbt, zum anderen, und was vielleicht noch viel schlimmer ist, konstant fatale Rechenfehler aufweist. Was ist das für eine Demokratie, wenn selbst nach Eingeständnissen über bestehende Fehler der legitime Wunsch nach einem Zweitgutachten ohne Kommentar abgewiesen wird?

Darum machen sich nun Viersener Bürger auf den Weg, um vom Recht des Bürgerbegehrens Gebrauch zu machen. Das Bürgerbegehren ist ein Instrument der direkten Demokratie. Sehr viele der Viersener Bürger glauben an die PRIMUS-Schule. Sie sind davon überzeugt, dass eine Schule wie diese die hiesige Schullandschaft nur bereichern und – wie bereits in den anderen vier Standorten – zu einem innovativen Aushängeschild der Stadt und der Region werden kann. Und so hoffen wir, dass auf diesem demokratischen Weg die Weichen für eine nachhaltige und innovative Schulentwicklung im Sinne aller Viersener Bürger überprüft und korrigiert wird. Am 08.02. kann es losgehen!

Leserbrief/Förderverein der Primusschule (Birgit Scherger-Seegers)