Literarisches – Kanaldeckel

Der Kanaldeckel vor unserem Haus nervt mich. Er stört mich am Tag und ärgert mich in der Nacht. Sehen die Autofahrer ihn nicht? Muss es Kanaldeckel geben?
Literarisches von Peter Josef Dickers

Literarisches – Ja, sagt die Stadt des Westfälischen Friedens, Münster. Sie liebt Kanaldeckel. Ihre Kanaldeckel sind anders. Das Tiefbauamt der Stadt schenkte dem Bistum Münster vierzig Kanaldeckel, weil es 1.200 Jahre alt geworden war. Rund um den Dom kann man sie mit Füßen treten. Begehbare Denkmäler. Fußweg in die Geschichte.

Geschehenes lässt sich nicht zurückholen. Geschichte ist Vergangenheit, von gestern. Muss man sich erinnern? Ja, sagen die Kanaldeckel. Du sollst auf Schritt und Tritt begehen können, was geschehen ist. Unsere Leistung können Sie mit Füßen treten, wirbt ein Werbeslogan für einen strapazierbaren Bodenbelag. Strapazierfähiger als wir ist niemand, sagen die Kanaldeckel. Außerdem bürgen wir für Geschichte. Wir liegen da für das, was geschah, und halten Vergangenes gegenwärtig.

Friede geschah. Der Westfälische Friede beendete den Dreißigjährigen Krieg. Im katholischen Münster und im evangelischen Osnabrück verhandelte man den Frieden. 350 Jahre Westfälischer Friede, sagt der Kanaldeckel. Lange her. Wer den Frieden hütet, bewahrt einen Schatz. Utopie oder Auftrag? Willst du Frieden, dann schaffe Frieden. Kanaldeckel stiften nicht Frieden, aber sie zeigen Wege zum Frieden, machen Friede begehbar. Der Kanaldeckel „Friede“ liegt auf der Straße. Dort beginnt Friede.

Bistum Münster. Nicht immer war Friede. Ich stand vor dem „Elends-Christus“ in der Domkammer. Dornengekrönt und gegeißelt. Von Wunden übersät, geschunden und verspottet. In der Hand ein Schilfrohr statt eines Zepters. Historisch leidvolles Geschehen wird zur Gegenwart. Spott und Hohn. Kinderschändung und Vergewaltigung. Geißel der Menschheit bis heute. Mit Füßen getretene Menschenrechte. „Warum immer noch?“, fragt der Kanaldeckel.

Bistum Münster. „Der Bettler“. Barlachs zwei Meter große Bronzefigur hängt im Kreuzgang des Doms. Von Unbelehrbaren denunziert als un-männliche Lehre vom irdischen Jammertal. Menschliches Leid klagt an. Leid war und ist unübersehbar. Es fordert heraus. „Auch dich?“, fragt der Kanaldeckel.

Der Kanaldeckel spricht von vergangenen Zeiten. Er macht betreten. Er lässt betreten, was gestern war. Ohne gestern kein heute. (opm)

Foto: Peter Josef Dickers

Aus: Peter Josef Dickers, Ein bisschen Sehnsucht. Vergriffen

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.