Literarisches: Walpurgisnacht auf dem Hohen Busch – Zwischen Bombennächten und Hexengeschichte

Es war die Nacht zum 1. Mai 1944, eine Nacht, die sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Damals war ich ein Kind und die Welt war nicht mehr die gleiche wie in den Jahren zuvor. Der Krieg hatte alles verändert: Die Städte lagen in Trümmern, die Menschen gingen gebeugt, und über allem lag die bleierne Schwere von Angst und Entbehrung. Doch an diesem Abend, hoch oben am Bismarckturm auf dem Hohen Busch bei Viersen, schien die Zeit für einen Moment stillzustehen.
Von Magdalene Walther

Literarisches – Die Nacht senkte sich schwer über Viersen, als wir uns auf den Weg machten. Es war mitten im Krieg und doch drängte es uns hinaus. Vielleicht, weil der Frühling in der Luft lag, vielleicht, weil wir uns wenigstens für eine Nacht aus den Fesseln des Alltags befreien wollten.

Wir waren eine kleine Gruppe: Hans, mein bester Freund seit Kindertagen, Lotte, die stets ein schelmisches Funkeln in den Augen hatte, Wilhelm, der Älteste von uns, der immer schon ernster war als wir anderen, und ich. Jeder von uns trug in seinem Rucksack ein paar Dinge zusammen, die wir in diesen kargen Zeiten auftreiben konnten: ein Stück altes Brot, ein kleines Taschenmesser, ein paar trockene Zweige. Unsere Mütter hatten nichts geahnt; sie waren froh, wenn wir nach der Schule und den Hilfsdiensten ein wenig zur Ruhe kamen. Hätten sie gewusst, wohin wir wollten, sie hätten uns sicher zurückgehalten.

Weg auf dem Hohen Busch – Foto: Privatarchiv Josten

Unser Ziel war der Bismarckturm auf dem Hohen Busch, ein Ort, der schon in besseren Zeiten für Abenteuer und Geschichten gut gewesen war. Der Turm stand einsam und erhaben auf dem Höhenzug, umgeben von stillen Bäumen und von einer eigentümlichen, fast feierlichen Atmosphäre. Früher, so hatten die Alten erzählt, versammelten sich die Menschen hier in der Walpurgisnacht, tanzten um das Feuer und vertrieben den Winter. Heute war davon nichts geblieben als Legenden.

Der Weg durch die dunkle Landschaft war beschwerlich. Der Wind spielte mit den kahlen Ästen der Bäume, ließ sie knarren wie alte Türen. Fernes Donnergrollen – oder war es das dumpfe Grollen von Artillerie? – rollte über den Himmel. Ab und zu duckten wir uns in Gräben, wenn Suchscheinwerfer in der Ferne ihre kalten Finger über das Land tasteten. Niemand durfte uns entdecken. Ausgangssperre galt und der Weg ins Freie konnte schnell gefährlich werden.

Als wir den Bismarckturm endlich erreichten, stand er da wie ein vergessener Wächter, rau und vom Wetter gezeichnet. Die Natur hatte ihn fast schon zurückerobert; Efeu rankte sich an seinen Mauern empor, und der Boden rundherum war von Moos bedeckt. Wir richteten uns in einer kleinen Senke unterhalb des Turms ein, geschützt von Büschen und altem, dichtem Gehölz.

Dort entzündeten wir unser kleines Feuer – kaum mehr als eine Handvoll Flammen, die dennoch ein warmes Licht in die Dunkelheit malten. Wir saßen eng beisammen, jeder von uns in eine Decke gehüllt, die Flammen spiegelten sich in unseren Augen. Für einen Moment schien der Krieg weit weg. Der Turm, der Wald, das Knistern des Feuers – alles schien wie aus einer anderen Zeit.

Lotte begann, alte Geschichten zu erzählen. Von den Hexen, die in dieser Nacht über den Himmel ritten, auf Besen und von dunklen Raben begleitet. Von Teufelsversammlungen auf den Gipfeln der Berge, von verborgenen Tänzen tief im Wald. Ihre Stimme war leise, fast ehrfürchtig, als fürchte sie, die Geister könnten uns wirklich hören. Hans schnitzte an einem kleinen Stück Holz herum, Wilhelm lauschte still, sein Blick in die Flammen gerichtet. Ich selbst spürte eine seltsame Mischung aus Freude und Wehmut. Es war, als ob diese Nacht eine Grenze war – zwischen der Kindheit, die wir langsam hinter uns ließen, und der harten Welt, die uns unausweichlich erwartete.

Das Wenige, das wir mitgebracht hatten – ein Stück Brot, ein kleiner Rest Käse, eine alte Apfelhälfte – teilten wir untereinander, als wäre es ein Festmahl. Jeder Bissen schmeckte nach Freiheit. Nach einem Leben, das wir uns zurückwünschten. Gegen Mitternacht wurde der Wind stärker. Über den Wipfeln hörten wir ein fernes Dröhnen – Bombergeschwader auf dem Weg nach Westen vielleicht. Wir erstickten hastig das Feuer, trampelten die Glut sorgfältig aus, bis kein Funke mehr blieb. Dann saßen wir noch eine Weile schweigend beisammen, lauschten dem Heulen des Windes und dem entfernten Donnern.

Als der erste helle Streif am Horizont erschien, machten wir uns auf den Heimweg. Der Turm verschwand hinter uns im Nebel des frühen Morgens, so still, als hätte er unsere kleine Rebellion gegen die Dunkelheit wohlwollend beobachtet. Niemand sprach auf dem Rückweg. Aber ich wusste: Diese Nacht würde ich nie vergessen. Sie war unser stiller Schwur gewesen, dass es mehr geben musste als Angst und Zerstörung. Dass irgendwo, tief in uns, noch immer Hoffnung lebte.

Und manchmal, wenn ich heute den Hohen Busch entlanggehe und der Wind durch die Bäume fährt, meine ich, für einen kurzen Moment das leise Knistern eines kleinen Feuers zu hören und Lottes flüsternde Geschichten in der Luft. (mw)

Foto: Privatarchiv Josten