Mehr Realität als Stimmung: Warum Umfragen Merz unterschätzen

Mit großem Optimismus und der nötigen Portion konstruktiver Ermunterung möchte ich heute einen Blick auf die erste Phase der Amtszeit von Friedrich Merz als Bundeskanzler werfen – und gleichzeitig auf einige der Herausforderungen hinweisen, die nicht zuletzt in der Wirkung von Umfragen und Stimmungsbildern deutlich werden.
„Meine Meinung“ von RS-Redakteur Dietmar Thelen

Kolumne – Seit seinem Amtsantritt hat Kanzler Merz mehrfach betont, er sehe in seinem Amt „eine einzigartige Aufgabe“, weil er in so vie­le Themen und mit so vielen Menschen in Kontakt komme. Bei seinem offiziellen Besuch in Brandenburg war er unter anderem zu Gast bei Wissenschaftlern und in einem Kindergarten – ein klares Signal, dass er nicht nur die großen Themen, sondern auch den Alltag der Menschen im Blick haben will. Schnell zeigt sich: Eine Kanzlerschaft, die sich nicht auf theoretische Debatten, sondern auf spürbare Realitäten einlässt, kann Vertrauen schaffen und sichtbar werden.

Zudem hat Merz markiert, dass er Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen möchte – mit klaren Worten zur Infrastruktur, zur Gesundheitsversorgung und zur besseren Umsetzung von Politik vor Ort. Dieser Anspruch zeugt von Ambition, sich nicht mit dem Mittelmaß zufriedenzugeben, sondern wirklich anzupacken.

In der Migrations- und Sicherheitspolitik zeigt Merz ebenfalls Zeichen von Entschlossenheit: Er räumt Versäumnisse ein und betont, dass Rückführungen ausgeweitet werden sollen, wenn Rechtsnormen verletzt werden. Auch in der Brandmauer-Debatte gegenüber der Alternative für Deutschland (AfD) bleibt er konsequent: Eine Zusammenarbeit mit dieser Partei schließt er kategorisch aus. All das lässt darauf hoffen, dass er als Regierungschef nicht nur verwalten, sondern klar gestalten will.

Warum gerade jetzt Lob angebracht ist
In einer Phase, in der viele Regierungswechsel von chaotischen Übergängen geprägt sind, wirkt die klare Agenda von Kanzler Merz – und das nicht nur symbolisch, sondern in konkreten politischen Schritten – beeindruckend. Der Ansatz, große Reformen wie etwa die Bürgergeld-Reform zur Chefsache zu erklären, spricht eine deutliche Sprache: keine halben Sachen, sondern klare Linien. Wenn eine Regierung nicht nur Reden schwingt, sondern sich echte Ziele setzt und Projekte anpackt, verdient sie Anerkennung – gerade in Zeiten, in denen viele Menschen Politik als zu langsam, zu unentschlossen oder zu unverbunden erleben.

Darüber hinaus: Ein Regierungschef, der Besuch in einem Kindergarten macht, sich mit Forschenden austauscht, zugleich außenpolitische Verantwortung übernimmt, der zeigt: Politik ist nicht hinter Schleiern, sondern mitten im Leben und auf der Bühne der Welt. Und das ist heute wichtiger denn je.

Ein Wort zur Zurückhaltung – denn Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen
Auch wenn ich hier positive Aspekte hervorhebe, möchte ich sehr bewusst auf eine kritische Komponente eingehen: Wie verlässlich sind derzeit die Umfragen? Wenn man sieht, dass etwa das Vertrauen der Bürger in die Zusammenarbeit von Koalitionspartnern spürbar gesunken ist – laut einer Befragung auf 61 % mit negativer Bewertung – dann muss man fragen, was diese Werte tatsächlich abbilden.

Warum ist hier Vorsicht angebracht?
Umfragen können gezielt beeinflusst werden: Wenn Mitglieder anderer politischer Lager (z. B. Oppositionsfraktionen) Umfrageplattformen nutzen oder gezielt Meinungsäußerungen steuern, können Ergebnisse verzerrt sein – etwa durch gezielte Mobilisierung von Kritikern oder durch „Meinungs-Champions“, die überrepräsentiert sind.

Der Kontext ist komplizierter geworden: Die Gesellschaft ist stärker polarisiert, Meinungen sind fragmentierter, viele Menschen sind skeptisch gegenüber klassischen Umfrageformaten – was die Aussagekraft vermindert.

Ergebnisse zeigen eher Stimmungen als fundierte Urteile: Jemand kann mit einem Regierungsmitglied unzufrieden sein, ohne genau zu wissen, woran – und solche Stimmungen werden in Zahlen übersetzt, die dann als Urteil erscheinen.

Timing und Fragestellung beeinflussen massiv die Antwort: Wenn unmittelbar vorher kontroverse Schlagzeilen (z. B. zur Migrationsaussage von Merz) erschienen sind, kann das die Antworten in eine bestimmte Richtung lenken. So zeigte sich etwa, dass die Aussage Merz’ zum „Stadtbild“ und Migration eine breite Debatte ausgelöst hat.

Vor diesem Hintergrund ist meine Aufforderung doppelt gemeint: Ja, es ist richtig und gerechtfertigt, positive Entwicklungen anzuerkennen oder negative anzusprechen. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig Umfragezahlen mit Bedacht zu lesen – und sie nicht als letztes Wort zu begreifen.

Ausblick und Empfehlung
Kanzler Merz steht nun vor der Aufgabe, seine vorgesehenen Reformen in die Umsetzung zu bringen und – wichtiger noch – sichtbare Verbesserungen im Alltag vieler Menschen zu erzeugen. Wenn etwa Infrastrukturmaßnahmen greifen, spürbar Bürokratie abgebaut wird, Digitalisierung vorankommt und zugleich Bürgerinnen und Bürger sich gehört fühlen – dann kann die positive Agenda Realität werden.

Ich empfehle daher:
Die Politik dieser Kanzlerschaft kritisch begleiten – mit Blick auf Ergebnisse, nicht nur Absichten. Die Umfragewerte nicht als unverrückbare Wahrheit zu sehen, sondern als ein Element unter vielen – mit offenem Blick auf mögliche Verzerrungen. Die Öffentlichkeit aktiv einzubinden: Rückmeldungen, Gespräche vor Ort, Bürgernähe sind heute wichtiger denn je und können helfen, dass Politik nicht nur als fern erlebt wird.

Mit großer Erwartung beobachte ich, wie Kanzler Merz seine Visionen umsetzt – und es wäre erfreulich, wenn wir in einem halben Jahr über echte Fortschritte berichten könnten. Dafür verdient er heute ein positives Wort – aber eben auch eine kritische Begleitung. (dt)

Foto: Tobias Koch