Ukrainische Flüchtlinge in Viersen – Eine ganze Gemeinde packt an

„Alles fing an mit einer Mail und zwei Anrufen am Karnevalswochenende“, berichtet Pfarrerin Kathinka Brunotte mitten im Trubel, der beim freitäglichen Café am Turm an der Evangelischen Kreuzkirche Viersen herrscht. Was daraus erwuchs, hat damals niemand erwartet.
Von RS-Redakteurin Nadja Becker

Viersen – Karneval rückte schlagartig in den Hintergrund, als die Nachrichten sich überschlugen und von dem zunächst unbegreiflichen Kriegsbeginn in der Ukraine berichteten. Während in der Ukraine die ersten Frauen und Kinder zu den Grenzen flüchteten und ihre Männer zurückblieben, begannen im Ausland die Planungen für Aufnahmen, Unterkünfte, Kleidung …

„In diesen Tagen sprach mich eine Presbyterin an, die sagte: Beten ist schön, aber das alleine reicht im Moment nicht. Es ist Krieg. Wir müssen doch etwas tun. Was können wir machen?“, so Pfarrerin Kathinka Brunotte, die in der Evangelischen Kirchengemeinde Viersen tätig ist. Unterstützt wurde der Impuls von zwei Ehrenamtlern, die selbst bereits angefangen hatten zu telefonieren um Kontakte zum Roten Kreuz und weiteren Einrichtungen herzustellen. Um diese ersten Schritte zu kanalisieren und um herauszufinden, welchen Platz die Gemeinde innerhalb der aktuellen Situation einnehmen könnte, rief Brunotte bei den Freunden von Kanew an. Zu dieser Zeit sortierten diese einen Lkw, der noch nicht voll war – auch dort wusste noch niemand, was in den nächsten Tagen und Wochen auf die Ehrenamtler zukommen würde.

Weil es vielen anderen Stellen genauso ging, begann die Evangelische Kirchengemeinde mit einer „kleinen“ Spendenaktion für die benötigten Sachspenden um den Lkw des Vereins Freunde von Kanew zu füllen. Uwe Zöllner, der 2. Vorsitzende der Freunde von Kanew, war es, welcher Kathinka Brunotte berichtete, dass der Verein Sprinter-weise die ersten Kriegsflüchtlinge nach Viersen holen wollte. Die heutige Arbeit mit Unterbringung und Betreuung wurde zu dieser Zeit von der Evangelischen Kirchengemeinde angestoßen, so wurden schnell unter den Gemeindemitgliedern genug Menschen gefunden, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen konnten und wollten.

Pfarrerin Kathinka Brunotte informiert die aktuell älteste ukrainische Ankommende in Viersen aus der Ukraine über die aktuellen Angebote der Evangelischen Kirchengemeinde. Foto: Rheinischer Spiegel

Innerhalb kürzester Zeit baute die Gemeinde eine Struktur neben der Struktur auf, ein komplettes Hilfesystem für Kanew. „Wir arbeiten eng zusammen mit den Freunden von Kanew und dem Sozialamt“, sagt die evangelische Pfarrerin. „Es gibt eine unfassbar gute Kommunikation und eine wahnsinnige Zusammenarbeit. Das Helfernetzwerk hat sich mittlerweile bei uns gebündelt und es macht mich furchtbar glücklich, dass die Hilfsbereitschaft aus allen Konfessionen und aus allen Vereinen so groß ist.“ Katholiken, Protestanten oder Muslime, Karnevalisten, Sportler oder Schützen – alle kommen zusammen und sagen: „Lass uns gemeinsam anpacken“.

Mittlerweile stehen auf der Webseite der Evangelischen Kirchengemeinde Viersen verschiedene Formulare ebenso bereit, wie verschiedene Kontaktdaten, sodass alle Anfragen zeitnah bearbeitet werden können. „Rund 250 Flüchtlinge, fünf Busse, haben wir über unsere Gemeinde in Privatquartiere vermitteln können. Ein Teil kam in der Residenz Irmgardis unter. Es ist großartig, dass wir niemanden in anderen Unterkünften unterbringen mussten. Mittlerweile werden die Privatquartiere, die bei der Stadt gemeldet werden, in unsere Formulare eingetragen – so gut läuft die Koordination.“ Aktuell befinden sich zudem noch rund 100 Viersener auf der Liste, die das Helferteam noch gar nicht kontaktieren konnte.

Auch die Logistik, mitten in der Nacht Ankommende auf Privathaushalte zu verteilen läuft über die Evangelische Kirchengemeinde. Momentan ist die Zahl der Flüchtlinge, die innerhalb der Stadt Viersen Schutz suchen, zwar gesunken, das gibt den Helfern jedoch die Möglichkeit die ankommenden Alleinreisenden gezielt passenden Quartieren zuordnen zu können.
Hinzu kommt, dass die Arbeit der Ehrenamtler nicht endet, wenn die Reisenden angekommen sind. Weder die Familien noch die Aufgenommenen werden allein gelassen. Mittlerweile wurde ein 24-Stunden-Orgatelefon eingerichtet, welches unter anderem bei Arztterminen, Schulfragen etc. kontaktiert werden kann. „Wir haben ein Ressort für Wohnungseinrichtungen, wenn Möbel in den Unterbringungen fehlen. Wir haben ein Ressort für Helfer und wir haben momentan sogar noch rund zwanzig Helferanfragen auf unserer Liste, die wir bisher noch nicht kontaktieren konnten. Es gibt so viele Menschen, die mit anpacken wollen, die etwas tun wollen, und wir müssen tatsächlich schauen, was diese Menschen überhaupt tun können – so groß ist die Hilfsbereitschaft“, so Kathinka Brunotte. Derzeit werden keine Sachspenden entgegengenommen. Deshalb bitten die Ehrenamtler darum keine Sachspenden vor der Kirche oder dem Gemeindehaus zu deponieren. Gezielte Spendengesuche werden auf der Webseite der Evangelischen Kirchengemeinde (viersen.ekir.de) veröffentlicht.

Ein starkes Team von Ehrenamtlern steht hinter dem gemeinsamen Helfernetzwerk und koordiniert die Aufgabenbereiche. Foto: Rheinischer Spiegel

Nach einem ersten Treffen sonntagsabends, damals noch völlig theoretisch, kamen am Montag drauf die ersten Flüchtlinge nachts um halb Eins an. Vier Nächte in der Woche nahmen die Ehrenamtler Menschen auf und die Pfarrerin sieht nun das Ziel die Menschen nicht alleine zu lassen. Weder die Aufgenommenen, noch die Aufnehmenden. Vor drei Wochen noch wurde darüber gesprochen, ob denn überhaupt genug Quartiere da sind, nun geht es darum, dass die Ukrainer in Integrationskurse, Arbeits- oder Ausbildungsplätze vermittelt werden. „Es ist jetzt wichtig, dass es Freizeitangebote gibt und dass diese Menschen langfristig in Wohnraum vermittelt werden können“, ergänzt die Pfarrerin. „Wir fühlen uns den Aufgenommenen gegenüber so verpflichtet, dass wir sagen, unsere Begleitung reicht hinein bis in die eigenen Wohnungen. Wir suchen also für alle, die aktuell in Privatquartieren sind, passende Unterkünfte.“

Wer eine Wohnung zur Verfügung stellt, für den besteht die Möglichkeit einer Nebenkostenpauschale pro aufgenommener Person, wie sie aktuell auch die Privataufnehmenden erhalten. Möglich ist zudem ein Mietvertrag, der über das Wohnungsamt und die Ausländerbehörde abgewickelt wird. Hier wird im Vorfeld geprüft, ob die vorgegebenen Parameter für Asylbewerber erfüllt werden. Unter diese Vorgabe fallen die Kriegsflüchtlinge aktuell mit ihrem Duldungsstatus. „Wir fragen derzeit bei den Menschen berufliche Kenntnisse ab und konnten so bereits einen Hausmeister vermitteln“, freut sich Kathinka Brunotte. Aufgrund dessen sucht die Gemeinde zurzeit weitere Firmen, die bereit sind ukrainische Flüchtlinge einzustellen, auszubilden oder tatsächlich eine bestehende Ausbildung weiterzuführen.

„Wir hoffen mit ihnen, dass es irgendwann die Möglichkeit gibt wieder in Frieden zurückzukehren“, denn sie alle warten darauf ihre Familien in ihrer Heimat gesund wiederzusehen. „Wenn das nicht so sein sollte, was wir ja mittlerweile alle befürchten, dann werden wir mit ihnen eine Lösung finden.“

Neben benötigten Wohnungen, Arbeits- und Ausbildungsplätzen werden bei der Evangelischen Kirchengemeinde zudem freizeitstrukturierende Angebote gesucht. Seien es Sportvereine, Tanzschulen, Fitnessstudios, Turnvereine – zwar gibt es bereits viele Angebote, doch es werden noch mehr benötigt. Alle weiteren Infos sind auf der Webseite (viersen.ekir.de) einsehbar. Was fehlt sind zudem Kita- und Schulplätze, weshalb die Ehrenamtler hoffen, dass ihr Appell an das Landesministerium, Familienministerium und Schulministerium auf offene Ohren trifft. In Viersen sei man startklar, jetzt liegt es an den übergeordneten Strukturen. (nb)