Weihnachtliche Geschichten – „Unerwarteter Besuch“

Mit ihm hatte niemand gerechnet. Das Kind schlief. Die Hirten kümmerten sich um ihre Schafe, die Engel hatten sich in den Himmel zurückgezogen. Plötzlich war dieser Mann da; von niemandem bestellt, von niemandem erwartet.
Literarisches zur Weihnachtszeit von Peter Josef Dickers

Advent – Er war überrascht. Mit einem Blick erkannte er, dass hier nichts zu holen war. So wie es aussah, waren die Leute selbst bettelarm, so wie er. Wer sollte ihm hier etwas geben? Sich als hilfsbedürftiger Bettler auszugeben, würde ihm nichts nützen. In verschlissenen Klamotten, die Arme auf Krücken gestützt, suchte er auf belebten Einkaufsstraßen bei Passanten Mitgefühl zu wecken. Zwar meldeten sich Gewissensbisse, aber die verflogen, wenn er abends Kassensturz machte. Meistens hatte es sich gelohnt. Jeder ist sich selbst der Nächste, wenn es ums Überleben geht, dachte er. Rücklagen ließen sich nicht damit aufbauen. Verschwenderisch war sein Leben nicht gewesen.

Hier war es wahrscheinlich nicht anders. „Geh mit Gott, aber geh“, würde man sagen und ihn vor die Tür setzen. Mit Misstrauen würden sie ihn betrachten. Dennoch geschah nichts. „Ich steh‘ an deiner Krippe hier.“ Dieses Lied hatte er als Kind gesungen. Den Folgetext, dass man gekommen war, um dem Kind etwas zu schenken, hatte er vergessen. Er stand nur da und starrte auf das Kind. Das schlief. Die Frau, wohl seine Mutter, warf dem Besucher einen kurzen Blick zu und nickte kurz. Der Mann, anscheinend der Vater, saß auf einem Schemel daneben. Er registrierte den Neuankömmling und wandte sich wieder von ihm ab.

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Den Bettler, so nannte man ihn abschätzig in einem Atemzug mit Herumtreibern und Süchtigen, verunsicherte die Situation. Sollte er bleiben oder gehen? Wenn er blieb, was nutzte ihm das? Er räusperte sich, wollte auf sich aufmerksam machen. Nichts geschah. Ein Kribbeln in der Nase verursachte einen Nieß-Anfall. Keine Reaktion. Ob die Leute blind oder schwerhörig waren? Er dachte an gestern, an den Zetteltrick. In einem Lokal hatte er einen Zettel auf einen Tisch gelegt, an dem ein paar Gäste saßen. „Bin taubstumm und bitte um eine Gabe“ stand auf dem Stück Zeitungspapier. Unter dem Zettel lag das Handy eines Gastes. Als die Leute über seine Aufdringlichkeit schimpften und ihn aufforderten zu verschwinden, nahm er den Zettel an sich, auch das darunterliegende Handy, und verschwand. Er würde jemanden finden, der es eintauschte gegen etwas, das Hunger und Durst stillte. Er hatte Verbündete.

Ein schlechtes Gewissen plagte ihn nicht. Den Chor der Entrüsteten überhörte er. Im Laufe der Zeit hatte er ein autistisches Desinteresse daran entwickelte, was andere von ihm hielten. Die Mehrheitsmeinung kannte er. Er gehörte zu den Störfaktoren einer auf Harmonie bedachten Gesellschaft. Ändern konnte er an der weit verbreiteten Meinung nichts. Die Rollen von „gut“ und „böse“ waren verteilt und ihm vertraut. Er hatte sich mit dem Spruch aus Berthold Brechts „Drei Groschen“ – Oper: „Die einen sind im Dunkeln, die anderen sind im Licht.“ Weil er arm war und es zu nichts gebracht hatte, galt er auch moralisch als jemand, den man mied. Mit dem Alleinsein-Müssen hatte er sich abgefunden. Fremde Hilfe anzunehmen, widersprach seiner persönlichen Würde. Dennoch war er auf Hilfe angewiesen und erbettelte sie, wo er annahm, dass man nicht verächtlich auf ihn herabsah. Er hatte den Glauben daran verloren, dass es gerecht zuging in der Welt. Aber ein Rest Gläubigkeit aus Kindertagen war ihm geblieben.

Ein Franziskaner-Pater hatte ihn getauft. Bei ihm klingelte er gelegentlich, da dieser ein großes Herz und vor allem etwas zu essen und zu trinken hatte. Ihn faszinierte, dass der Pater einem Bettelorden angehörte. Deren Mitglieder legten ein Armutsgelübde ab und lebten vom Erlös ihrer Arbeit und von Almosen. Er war auch ein Bettler, Gleichgesinnter, Gleich-betroffener. Der Pater hatte sich für den Bettler-Orden, im Mittelalter Zufluchtsort für Leute, die hilflos waren oder ihren Halt verloren hatten, freiwillig entschieden.

Immer noch stand der Bettler vor der Krippe. Das Kind schlief. Die Umstehenden nahmen nach wie vor keine Notiz von ihm. Er schien nicht besonders aufzufallen in dieser Welt. Niemand hatte ihn hier erwartet, niemand hatte ihn vor die Tür gesetzt. Auch das Kind war nicht in einer Krippe erwartet worden. Beruhigend und tröstlich wirkte das auf den Bettler. Schritt für Schritt schlich er aus der Kirche. Er ging, ohne von jemandem erwartet zu werden. Er blieb ein Obdachloser, Besitzloser. Aber warum sollte er sich sorgen? Er hatte nichts zu verlieren. Trotz seiner Verlorenheit hielt ihn ein unzerstörbares Etwas am Leben. Er war arm, bettelarm, aber unter Gleichgesinnten, Gleichbetroffenen. Und arm wie das Kind in der Krippe. (opm)


Aus: Peter Josef Dickers, Nicht unfehlbar. Geschichten in aufgeregten Zeiten, Verlag Books on Demand Norderstedt 2020, 9,99 Euro, auch als e-book lieferbar, ISBN 978-3-7526-3268-2)

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.