Literarisches: Ein Lebenskünstler

Wir kannten uns, ohne viel voneinander zu wissen. Ich traf ihn auf dem Bahnhofs-Vorplatz, seinem Hoheitsgebiet. Er hockte auf einem Schemel mit vornüber gebeugtem Kopf, so dass man nicht sein Gesicht sehen und ihm nicht in die Augen schauen konnte. Um befremdliche Blicke abwehren und nicht erwidern zu müssen? Sollte sich jemand dem Becher mit Münzen vor seinen Füßen in unlauterer Absicht genähert haben, hätte er es zu verhindern gewusst.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Auf Suche nach Daseinsvorsorge oder Zuhause schien er nicht. Er plante nicht über den Tag hinaus. Eine bestimmte Ordnung oder Regelmäßigkeit in sein Leben zu bringen – dafür opferte er keine Zeit. Auf Fragen, die man ihm stellte, reagierte er, wenn überhaupt, mit Gegenfragen. Von mir musste er, dass ich ihn nicht unbeachtet ließ und ihm gelegentlich etwas zusteckte. Fröhliche Geber hätte Gott gern, belehrte er mich einmal. Damit spielte er auf meine Biografie an, über die er sich, auf welche Weise auch immer, kundig gemacht hatte. Oder er vertraute darauf, alle Welt müsste Mitleid mit ihm haben.

Eines Tages war es der hungrige Magen, der ihn gesprächsbereit machte. Er hätte lange nichts gegessen, klagte er. Das bedauerte ich, obwohl er sich mit Notsituationen auskannte. Ein paar Euro würden ihm helfen, formulierte er beiläufig. Ich verstand. Aber es kann sein, dass ein paar Euro aufgebraucht sind, ehe der Magen etwas zu essen bekommen hat. „Wohltaten am falschen Ort gleichen einer Übeltat“, gab vor zweitausend Jahren Marcus Tullius Cicero zu bedenken. „Du hast Glück“, erwiderte ich. „Eine Gaststätte hier am Bahnhof bietet für vier Euro eine Mahlzeit an. Ich kenne den Wirt und werde den Betrag für dich übernehmen. Verlockend war mein Angebot offenbar nicht. Er murmelte ein „umständlich“ und machte sich davon.

Foto: Ben_Kerckx/Pixabay

Sporadisch sah ich ihn und wechselte ein paar Worte mit ihm. Er badete im Weltschmerz und zählte alle Übel auf. Am lautesten beklagte er seine unerfüllt gebliebenen Wünsche. Ein Zeichen dafür, dass die selbstgewählte Isolierung nicht ohne Probleme verlief und er mit seiner Lebenserwartung nicht wirklich abfand. Nichts in Händen zu haben außer den eigenen, machte ihm den schmalen Grat zwischen zufrieden und nicht zufrieden sein bewusst.

Einige Zeit später fiel mir mein Versäumnis ein, dem Wirt Geld zu schulden. Ich nahm mir vor, mir in jener Gaststätte eine Mahlzeit zu gönnen und meine Schulden zu begleichen. Der Wirt ist ein gutmütiger Mensch. Für Portionen, die er hungrigen Gästen serviert, hat er keine genormten Maßeinheiten. Die zehn Euro, die ich ihm für zwei Mittagessen hinschob, genügten ihm nicht. Vierundvierzig Euro müsste er kassieren, meine Mahlzeit mitgerechnet. Ich bat um Klärung. Zehnmal zu je vier Euro hätte der Gast gespeist. Vom bloßen Dasitzen am Bahnhof wurde er nicht satt. Konsum-Verächter war er nicht, auch nicht zufrieden mit Reste-Verwertung. Der Wirt war sich keiner Schuld bewusst und auf ein Mittagessen zu vier Euro fixiert sowie auf meine Zusage, sie zu begleichen.

Lebenskünstler haben ihre Gönner. Sie setzen auf die Güte anderer und sichern so ihren Lebensunterhalt. Sie schätzen die Vorteile des Müßiggangs, aus ihrer Sicht ein ihnen zustehendes Recht. Ausgestoßen aus der Gemeinschaft oder in aussichtsloser Lage zu sein, empfinden sie nicht. Der allgemeine Tugend-Katalog ist für sie nicht verbindlich.
Der Platz am Bahnhof ist seit geraumer Zeit nicht besetzt.


Aus: Peter Josef Dickers, Nicht unfehlbar

Foto: Privat

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.