Literarisches: Muttertage und Mutterjahre

Hungerjahre prägten das Leben in unserem Dorf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Reichsmark war wertlos. Kartoffeln gegen Kunstgegenstände, Milch und Butter gegen Schmuck. Schwarzhandel hatte Hochkonjunktur.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – Güter des täglichen Bedarfs gegen handfestes Hab und Gut. Wenn ich bei einem Bauern, mit dem unsere Familie in verwandtschaftlicher Beziehung stand, um eine Kanne Milch, ein Stück Butter oder um Kartoffeln bettelte, hatte ich Aussicht auf Erfolg, wenn ich im Tausch dafür Zigaretten anbot – eine Kostbarkeit, die wir von den amerikanischen Soldaten ergatterten, die sich im Dorf einquartiert hatten.

Vergesst Gott nicht in eurer Not, hatte der Pfarrer die Gläubigen in der Kirche ermahnt. Meine Mutter war gläubig, aber sie musste nach irdischen Dingen Ausschau halten, statt nach dem Himmel. Himmel war weit weg. Es ging ums Überleben. Sie benötigte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mantel und Schuhe. Neue Schuhe, die ich zur Feier der Erstkommunion anziehen sollte, waren nicht erschwinglich. Ein Schuster stellte sie in Heimarbeit her. Den Kommunion-Anzug erbettelte Mutter.

Foto: neelam279/Pixabay

Jemand, den Mutter kannte, bot an, das gemästete Hausschwein zu schlachten, um die Fleisch-Rationen für die nächsten Monate zu sichern. Viel falsch machen konnte Mutter ihrer Meinung nach nicht. Wie viel Fleisch der Mann für sich reservierte und ob er noch sonstige Dienste meiner Mutter einforderte, kam nicht zur Sprache. Mutter klagte nicht – nicht über ihr Leben, nicht über das Leben und Verhalten anderer. Sie hätte viele Gründe gehabt. Wer hätte ihr zugehört? Sie nahm ihr Leben hin. Ihr blieb das Beten. Ob es geholfen hat, sagte sie nicht.

Kein Wunder, dass sie nicht sehr alt geworden ist. Mit gut sechzig Jahren waren ihre Kräfte aufgezehrt. Ihr Lebensfaden war durch viele Zerreißproben brüchig geworden. Die „gute, alte Zeit“, ihre Zeit, konnte nicht besonders gut gewesen sein.

Dennoch habe ich Mutter nie verbittert erlebt. Sie sang gern – vielleicht, um die Schatten der Gegenwart und Vergangenheit eine Weile beiseite zu schieben. Ein Lied zu singen, mochte befreiend wirken. Diese Mutter-Tage und Mutter-Jahre haben sich mir eingeprägt. Sie begleiten mich in Gedanken immer noch und zählen zu den nicht erloschenen Kindheitserinnerungen.


Text-Ausschnitt aus: P.J. Dickers, Die Pendeluhr. Stationen erinnerungswürdiger Jahre. ISBN 978-3-7412-4651-7. Euro 8.99

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.