Literarisches – Erde statt Himmel

Hungerjahre prägten das Leben in unserem Dorf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Leute aus der Stadt unternahmen Hamsterfahrten zu uns ins Dorf, um Bauern und Privatleuten Tauschgeschäfte anzubieten. Kartoffeln gegen Kunstgegenstände, Milch und Butter gegen Schmuck. Schwarzhandel hatte Hochkonjunktur.
Literarisches von Peter Josef Dickers

Literarisches – Güter des täglichen Bedarfs gegen handfestes Hab und Gut. Wenn ich bei dem Bauern, mit dem unsere Familie in verwandtschaftlicher Beziehung stand, um eine Kanne Milch, ein Stück Butter oder ein paar Kartoffeln bettelte, hatte ich Aussicht auf Erfolg, wenn ich im Tausch dafür Zigaretten anbot, welche wir von amerikanischen Soldaten ergatterten, die sich im Dorf einquartiert hatten.

Vergesst Gott nicht in eurer Not, hatte der Pfarrer die Gläubigen in der Kirche ermahnt. Meine Mutter war gläubig, aber sie musste eher nach irdischen Dingen als nach dem Himmel Ausschau halten. Himmel war weit weg. Es ging ums Überleben. Sie benötigte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mäntel und Schuhe. Neue Schuhe, die ich zur Feier meiner Erstkommunion erhalten sollte, waren unerschwinglich. Ein Schuster stellte sie in Heimarbeit her. Den Kommunionanzug erbettelte Mutter. Anzug und Schuhe befanden sich als Erinnerungsstücke noch in meinem Kleiderschrank, als ich fünfzehn Jahre später umzog an meinen Studienort. Ich hatte sie nicht als Ladenhüter, sondern als Erinnerung an Geschehnisse aufbewahrt, die entrückt waren, mich aber, zumindest unbewusst, begleitet hatten.

Foto: GregMontani/Pixabay

Das Dorf war unser Leben. Das Dorf war unser Himmel. Die Welt hinter dem Gartenzaun war überschaubar. Bauernhöfe, grüne Wiesen. Kartoffeläcker. Kleinbürger-Idyll rund um die alte, romanische Pfarrkirche. Hier fühlten wir uns sicher und geborgen. Hier erhofften und fanden wir Schutz. Der Dorfpfarrer wusste, was gut und richtig war. Er hatte in gottesfürchtigen Landen Macht über Leben und Tod. Von der Kanzel herab verkündete er Wahrheiten, die als unverrückbar galten. Die Institution Kirche gewährte und garantierte Halt und Sicherheit. Die Kirche war den Menschen nah und diese der Kirche.

„Bleibe, wie du heute bist. Der Himmel dir dann sicher ist.“ Ein Plakat mit dieser Inschrift prangte über den Haustüren, wenn ein Kind zur Erstkommunion in die Kirche geleitet wurde. Auch über unserer Tür. Wer immer solche und ähnliche Sprüche ersonnen hatte – sie beschrieben eine Welt, von der jeder wusste, dass es sie so nicht gab, die aber insgeheim ersehnt wurde.

Ein Verwandter meiner Mutter bot ihr an, heimlich das gemästete Hausschwein zu schlachten, um die Fleischrationen für die nächsten Monate zu sichern. Etwas machen konnte sie nicht. Wie viel Fleisch er für sich selbst reservierte und welche sonstigen Dienste meiner Mutter er einforderte, blieb unausgesprochen. Sie klagte nicht – nicht über ihr Leben, nicht über das Leben anderer. Sie hätte viele Gründe gehabt. Aber wer hätte ihr zugehört?

Friedvolle Idylle war unser Heim nicht. Keine heile Welt. Keine heile Familie. Mutters Leben ließ wenig Zeit für Träume. Dennoch hätte sie nicht woanders leben wollen. Kein Wunder, dass sie nicht sehr alt geworden ist. Ihr Lebensfaden war durch viele Zerreißproben brüchig geworden. Die „gute, alte Zeit“, ihre Zeit, in der angeblich alles besser war, konnte so besonders gut nicht gewesen sein.

Und doch habe ich Mutter nie verbittert erlebt. Sie sang gern – vielleicht, um die Schatten der Vergangenheit und Gegenwart für eine Weile beiseite zu schieben. Ein Lied zu singen, mochte befreiend wirken. Das Bild, das sich mir eingeprägt hat, begleitet mich bewusst oder unbewusst immer noch. Es gehört zu meinen nicht erloschenen Kindheitserinnerungen. (opm)


Aus: Peter Josef Dickers, Die Pendeluhr – Stationen erinnerungswürdiger Jahre, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016. ISBN: 9783741246517. 8.99 Euro

Foto: Winkler

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.