„Die Situation ist prekär“ – IHK verabschiedet „Forderungen für sichere Energieversorgung“

Steigende Strom- und Gaskosten, Spritpreise auf Rekordniveau und ein drohender Gaslieferstopp Russlands – kaum ein Thema bereitet den Unternehmen derzeit so große Sorgen wie die Energieversorgung.

Niederrhein – Die Vollversammlung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein hat in ihrer jüngsten Sitzung das Positionspapier „Forderungen für eine sichere Energieversorgung der Wirtschaft“ verabschiedet. „Das Thema beschäftigt uns nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine“, sagte IHK-Präsident Elmar te Neues. „Es ist wichtig, dass wir als IHK uns positionieren und bei dem Thema mit der Politik im Gespräch bleiben.“ Die Industrie und Handelskammer fordert in ihrem Papier unter anderem ein Ende der Diskussionen um einen vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohlverstromung, Anreize für Investitionen in Netzkapazitäten sowie den massiven Ausbau Erneuerbarer Energien und der Wasserstofftechnologie. „Unsere Positionen zielen darauf ab, die wirtschaftliche Stärke unserer Region zu erhalten und sie gleichzeitig in die klimafreundliche Zukunft zu führen“, sagte IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz

Zur Untermauerung und Erläuterung des Positionspapiers stellte im Anschluss Kurt Vetten, Geschäftsführer der SME Management GmbH, die Ergebnisse des Impulspapiers „Perspektive: Energiesicherheit im Kern- und Wirkungsraum des Rheinischen Reviers“ vor. Die Analyse war von den Industrie- und Handelskammern Mittlerer Niederrhein, Aachen und Köln in Auftrag gegeben worden. Bei der Festlegung des Ausstiegspfads aus der Kohleverstromung sei die Gasversorgung stets als sichere Übergangstechnologie und Back-Up-Lösung angenommen worden, so Vetten. Diese Voraussetzung habe sich mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine dramatisch geändert. Vor diesem Hintergrund müsse der Ausstiegspfad der Kohleverstromung im Hinblick auf die Versorgungssicherheit genau untersucht und bei Bedarf angepasst werden. „Bis Ende dieses Jahres sollen laut Kohleverstromungsbeendigungsgesetz im Rheinischen Revier gut 2,8 Gigawatt gesicherte und steuerbare Kraftwerksleistung abgeschaltet werden, ohne dass bisher nennenswerte Ersatzkapazitäten für die Bereitstellung von adäquater gesicherter elektrischer Leistung geschaffen wurden“, so Vetten. Laut der IHK-Studie könnten die Braunkohlekraftwerke durch Verlängerung der Sicherheitsbereitschaft oder durch Anpassung des Stilllegungspfads bei Einhaltung des Ausstiegsdatums 2038 einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung der Sicherheit der Stromversorgung leisten. „Die Lage ist prekär“, erklärte Vetten. „Wir müssen mit den aktuell vorhandenen betriebsfähigen Anlagen jetzt die Versorgungssicherheit gewährleisten – sonst haben wir Chaos.“

Zudem müsse der Ausbau der Erneuerbaren Energien endlich massiv beschleunigt werden. Zur Einhaltung des „Gigawatt-Paktes“, der mehr als Verdopplung der erneuerbaren Kapazitäten im Rheinischen Revier bis 2028, müssten rein rechnerisch etwa zwei Windkraftanlagen pro Woche in Betrieb genommen werden. Das wären rund 104 Anlagen im Jahr. Laut dem Landesverband Erneuerbare Energien wurden im Jahr 2021 in ganz NRW lediglich 83 neue Windkraftanlagen in Betrieb genommen. Deshalb müssten unter anderem Planungs- und Genehmigungsprozesse vereinfacht und verkürzt sowie zügig Flächen für Erneuerbare Energien festgelegt werden, erklärte der Experte. Bei der Ausweisung dürften die kommunalen Gebietskörperschaften von der Landesregierung nicht allein gelassen werden. Sonst seien die Ausbauziele nicht zu schaffen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage gewinnt der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft weiter an Bedeutung. Unter der Annahme, dass die Erdgaspreise nachhaltig hoch bleiben, müssten bereits ab dem Jahr 2035 zur Vorhaltung einer gesicherten Leistung im Rheinischen Revier erste wasserstoffbetriebene Kraftwerke in Betrieb genommen werden.

Beim Strom sind Unternehmen aus Industrie und Gewerbe schon jetzt vermehrt von Netzrückwirkungen betroffen. Daher müssen die Erneuerbaren Energieanlagen vermehrt technisch mit Eigenschaften ausgerüstet werden, die heute die konventionellen Kraftwerke erbringen, so zum Beispiel die sogenannte Schwarzstartfähigkeit nach einem Netzausfall. Vor allem bei einer „Dunkelflaute“, also in Zeiträumen, in denen die Sonne nicht scheint und gleichzeitig weitgehend Windstille herrscht, sorgt die derzeit noch nicht ausreichende gesicherte Leistung von Photovoltaik- und Windenergie für Probleme im Netzverbund. Zusätzlich wird es immer herausfordernder, die notwendige Spannung und Frequenz im Netz aufrecht zu erhalten. Denn auch dazu tragen u.a .die Braunkohlekraftwerke im Rheinischen Revier maßgeblich bei. Diese „Systemdienstleistungen” der Kraftwerke zu ersetzen, benötigt ebenfalls Zeit. Hier könnten zukünftig Kombinationen von erneuerbaren Anlagen und Speicher einen wesentlichen Lösungsbeitrag leisten.

Bei der Transformation im Rheinischen Revier müssten deshalb nicht nur die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut, sondern gleichzeitig müsse auch die Netzkapazität gesteigert werden. „Verlässliche Energie bildet das Fundament unserer industriellen Wertschöpfungsketten. Eine Verschlechterung der Versorgungssicherheit – selbst schon geringe Netzschwankungen – können zu erheblichen Produktionsausfällen und Anlagenschäden führen“, so Vetten.

Die Wirtschaft sei aufgrund des sehr hohen Preisniveaus, vor allem aber aufgrund des sinkenden Vertrauens in eine dauerhaft sichere Energieversorgung äußerst beunruhigt, so der SME-Geschäftsführer. Mit Blick auf die Diskussion um einen Boykott von russischem Erdgas stellt die Untersuchung fest, dass viele Unternehmen, die derzeit auf Gas für Prozesswärme angewiesen sind, ihre Produktionsprozesse nicht kurzfristig umstellen können. Sollten sie von der Gasversorgung abgeschnitten werden, müssten sie ihre Produktion einstellen. Dabei würden manche Anlagen irreversibel geschädigt. Schon allein deshalb sollte Gas nur dann zur Stromerzeugung eingesetzt werden, wenn es aus unterschiedlichen Quellen ausreichend zur Verfügung steht.

Für ihre Analyse hat SME Management GmbH eine Vielzahl von Studien zum Rheinischen Revier ausgewertet und rund 50 Vertreterinnen und Vertreter von vornehmlich mittelständischen Unternehmen aus den Bezirken der IHKs Mittlerer Niederrhein, Aachen und Köln befragt. Positionspapier und Studie sind abrufbar unter: www.mittlerer-niederrhein.ihk.de/28227 (opm/IHK)

Kurt Vetten, Geschäftsführender Gesellschafter der SME Management GmbH mit Sitz im QUIRINUS Forum in Heppendorf, stellte der IHK-Vollversammlung die Ergebnisse der Studie „Energiesicherheit im Kern- und Wirkungsraum des Rheinischen Reviers“ vor. Foto: IHK