Morgen feiern wir Fronleichnam. Es ist also ein guter Zeitpunkt noch einmal zurückzublicken … „Wir lebten in Viersen, an der Niers, dort, wo das Rheinland sich katholisch nannte, so tief verwurzelt wie der dunkle Boden unter den Feldern. Um 1900 war Viersen eine wachsende Stadt – mit Textilindustrie, Schornsteinen, und einem sozialen Gefüge, in dem die Zugehörigkeit zur Kirche mehr war als nur Glaube. Sie war Heimat, Identität, manchmal auch Grenze.“
Literarisches von Magdalene Walther
Viersen – Ich erinnere mich noch gut an jene Sommernachmittage, wenn der Tee nach Lindenblüten roch und das Sonnenlicht golden auf Großmutters Häkeldeckchen fiel. Dann, wenn das Haus still wurde und nur das Ticken der Wanduhr sprach, begann sie manchmal zu erzählen – leise, aber mit einer Wärme, die mir bis heute nachgeht.
„Wir lebten in Viersen, an der Niers, dort, wo das Rheinland sich katholisch nannte, so tief verwurzelt wie der dunkle Boden unter den Feldern. Um 1900 war Viersen eine wachsende Stadt – mit Textilindustrie, Schornsteinen, und einem sozialen Gefüge, in dem die Zugehörigkeit zur Kirche mehr war als nur Glaube. Sie war Heimat, Identität, manchmal auch Grenze. Es war Fronleichnam, Kind“, sagte sie einmal, und ihre Hände, vom Alter gekrümmt, falteten sich wie zum Gebet, „und die Straßen Viersens waren geschmückt, als käme der Kaiser selbst.“
Sie war damals ein Mädchen, zierlich und neugierig, mit einem Vater, der ehrenamtlich in der evangelischen Kirche diente – einer Gemeinde, die sich noch wie eine zarte Pflanze gegen die große katholische Nachbarschaft behauptete. „Wir waren wenige“, sagte sie, „aber wir standen fest. Der Glaube war kein Festzug, sondern ein stilles Versprechen.“
An Fronleichnam durfte sie nicht mit den anderen Kindern an der Prozession teilnehmen. Ihre Mutter – eine Frau mit ernstem Blick und gestärktem Kragen – hatte es verboten. „Wir gehören nicht zum Weihrauch“, sagte sie streng. Doch das Mädchenherz in meiner Großmutter schlug anders. Heimlich lief sie damals mit ihrer Freundin Käthe zum Kirchplatz St. Remigius, wo die Männer in Uniform standen und der Priester unter dem Baldachin das Allerheiligste trug. Blumen regneten von den Fenstern, und die Musik der Blaskapelle ließ die Häuser erzittern.
„Ich sah es nur aus der Gasse“, flüsterte sie mir zu, „hinter dem Gartenzaun. Und ich weiß noch, wie ich mich fragte, ob Gott wohl auch an uns dachte, an die Evangelischen, die nicht mitgehen durften.“
Später, zurück in der evangelischen Kirche mit dem rauen Holzgestühl, sang ihr Vater ein Lied auf der Orgel: „Ein feste Burg ist unser Gott“ – und sie sang mit, obwohl ihr die Kehle vom Staunen noch trocken war. „In jenem Moment“, sagte sie, „wusste ich, dass unser Glaube nicht weniger schön war – nur leiser. Und manchmal“, fügte sie hinzu und blickte aus dem Fenster, „hat das Leise die tiefste Wurzel.“
Wenn ich heute an Fronleichnam durch die Straßen gehe, sehe ich sie manchmal vor mir – ein Mädchen in einem schlichten Kleid, verborgen hinter Hecken, mit großen Augen, die nicht nur das sehen wollten, was war, sondern auch das, was fehlte. Und ich danke ihr. Für ihre Geschichten. Für ihre Haltung. Und für ihren stillen Mut. (mg)
