Literarisches: Es ist wieder Krieg. Bedrückende Erinnerungen an meine Kindheit

Der Bundeskanzler beruft wegen der Vorgänge im Iran das Sicherheitskabinett ein. Die bange Frage steht im Raum: „Kommt es jetzt zum großen Krieg?“ Bilder aus meiner Kindheit tauchen auf. Rosige Märchenbilder sind es nicht, die haften geblieben sind. Verklärte Erinnerungen kommen nicht zum Vorschein.
Von Peter Josef Dickers

Literarisches – „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg.“ Das Volkslied aus der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ haben wir nicht gesungen, sondern erlebt. Für romantische Gefühle, die eine heile Welt vorgaukelten, bestand kein Anlass. „Sag mir, wo die Blumen sind“, hätte sie möglicherweise gesungen, wenn sie den Anti-Kriegs-Song gekannt hätte. Ein Aufruf des Führers zum Kriegswinterhilfswerk des Deutschen Volkes forderte „zu höchster Opferbereitschaft“ auf. Der Reichswirtschaftsminister fügte hinzu: „Sparen hilft den Sieg sichern.“ Appelle, die wie Hohn in den Ohren meiner Mutter geklungen haben müssen. Der Anforderungsbogen wurde überspannt. Viele ahnten, dass der mythische Leviathan nahe war, jenes Ungeheuer, welches Chaos und Tod bescherte. Ob und welche Spuren diese Ereignisse in meiner kindlichen Entwicklung hinterlassen haben, kann ich nicht beurteilen. Folgenlos werden sie nicht geblieben sein.

1942 fiel mein Vater in Russland. Meine Mutter war fünfunddreißig Jahre jung, als ihr der „Heldentod“ meines Vaters mitgeteilt wurde. Ich erinnere mich schemenhaft an den Tag, der zum „ehrenvollen Andenken an den tapferen Krieger“ aufrief. Ob es meiner Mutter etwas bedeutete, dass er als „vorbildlicher Soldat in treuer Pflichterfüllung gefallen“ war? Es begannen Mutter-Tage, Mutter-Jahre im Krieg. Sie erlebte, welche Spuren der Krieg in den Seelen, auch in ihrer Seele, hinterließ. Sie fragte nicht nach Sozialamt, nach Recht auf einen Kindergartenplatz für mich, nach Recht auf Ganztagsförderung. Hätte es schon den Begriff „allein erziehend“ gegeben, wäre er wörtlich zu nehmen gewesen.

An wortreiche Klagen von ihr kann ich mich nicht erinnern. Mit wenig war sie aufgewachsen, mit wenig war sie zufrieden. Es ging ums Überleben, um „Essen aus Resten.“ An Überfluss litt niemand. Aus banalen Notwendigkeiten bestand ihr Leben. Sie benötigte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mantel und Schuhe. Für ein Bündel alter Zeitungen bot der Altpapierhändler ein paar Pfennige an. Schuhe, die ich zur Erstkommunion anziehen sollte, waren nicht erschwinglich. Ein Schuster fertigte sie in Heimarbeit an. Meinen Kommunion-Anzug erbettelte Mutter.

Den Schmerz über den frühen Tod meines Vaters verbarg sie. Für Trauer blieben weder Raum noch Zeit. Negative Erlebnisse wurden verdrängt. Sie hätte viele Gründe für viele Tränen gehabt. Dennoch klagte sie nicht, nicht über ihr Leben, nicht über das Leben anderer. Wer hätte ihr zugehört? Sie nahm ihr Leben hin. Ihr blieb das Beten. Ob es geholfen hat, weiß ich nicht.

Eines Tages habe ich begonnen, nach meinem Vater zu fragen. Zeitzeugen lebten nicht mehr. Seitdem durchsuche ich Totenzettel und alte Zeitungsnotizen. Ich frage nach bei Verwandten und Bekannten. Ich erkundigte mich im Pfarrarchiv. Dort fehlen Unterlagen über den Zeitraum zwischen 1931 und 1949. Wurden Eintragungen gelöscht? Waren Erinnerungen und Fakten dabei, die man verdrängte oder tilgte? Ich möchte wissen, was gewesen ist. Ich möchte wissen, wer ich bin. Das Gestern darf sich nicht wiederholen. (opm)

Foto: Privat

Foto: Privat

Peter Josef Dickers wurde 1938 in Büttgen geboren. Nach einem Studium der Katholischen Theologie sowie der Philosophie und Pädagogik in Bonn, Fribourg/Schweiz, Köln sowie Düsseldorf erhielt er 1965 die Priesterweihe. Anschließend  war er in der Seelsorge und im Schuldienst tätig, bis er sich 1977 in den Laienstand rückversetzen ließ und heiratete. Nach der Laisierung war er hauptamtlich tätig an den Beruflichen Schulen in Kempen (jetzt Rhein-Maas-Kolleg) mit den Fächern Kath. Religionslehre, Pädagogik, Soziallehre, Jugendhilfe/Jugendrecht.

„Seit der Pensionierung bin ich weiterhin engagiert durch meine Schreibtätigkeit, mein Vorlese-Engagement in diversen Einrichtungen und sonstige Initiativen. In den Sommermonaten lese ich zeitweise als „Lektor“ auf Flusskreuzfahrt-Schiffen aus meinen bisher erschienenen Büchern“, so Peter Josef Dickers, der mittlerweile in Mönchengladbach beheimatet ist.